Melanchthon-Skandal: Eltern kranker Kinder fühlen sich von Verwaltung und Politik verhöhnt



Der Arzt von Natalie P. hegt den Verdacht, dass das Mädchen ein allergisches Ekzem hat und rät den Eltern per Attest, die Tochter nicht mehr in der Melanchthonschule unterrichten zu lassen.

Der Arzt von Natalie P. hegt den Verdacht, dass das Mädchen ein allergisches Ekzem hat und rät den Eltern per Attest, die Tochter nicht mehr in der Melanchthonschule unterrichten zu lassen.

Von BERTHOLD BLESENKEMPER

Natalie P. (Name von der Redaktion geändert) ist krank. Sie leidet an regelmäßig wiederkehrendem Kopfschmerz und Schwindel. Ihre Haut ist großflächig mit Ausschlägen übersät. Zweimal bereits ist die 16-Jährige in der Schule umgekippt. Rettungswagen haben sie ins Krankenhaus transportiert. Fünfmal wird Natalie P. in dieser Zeit zusätzlich von ihrer Mutter nach Notrufen per Smartphone aus dem Unterricht geholt und ins Hospital gebracht. Die Ärzte dort können allerdings nichts feststellen. Kein Einzelfall. Mehreren Mitschülerinnen und -schülern ergeht es ähnlich. Manche leiden an wiederkehrenden Atemwegsinfektionen, andere an anhaltenden Ohrenschmerzen oder Pilzerkrankungen. Die Eltern machen Naphtalin-Ausdünstungen in der Schule für die Probleme ihrer Kinder verantwortlich. Das Umweltgift, das teilweise penetrant nach Mottenkugel riecht,  steht im dringenden Verdacht Krebs zu erregen. Die im Klassenraum gemessenen Schadstoffkonzentrationen liegen zum Teil deutlich über den vom  Bundesumweltamt herausgegebenen Vorsorgewert von 10 Mikrogramm pro Kubikmeter Raumluft. Schulbehörde und Stadtverwaltung jedoch lassen die Kinder weiter in den Räumen unterrichten. Sie vertrauen einem von der Stadt beauftragten Gutachter, der dafür grünes Licht gegeben hat.

Für den zuständigen Dezernenten sind die Krankheiten der Kinder nur „Befindlichkeiten“, die Beschwerden der Eltern ein „Hype“, wie er später öffentlich erklärt. Anders sieht es der Arzt von Natalie P. Er hegt den Verdacht, dass das Mädchen ein allergisches Ekzem hat und rät den Eltern per Attest, sie nicht mehr in der Melanchthonschule sondern möglichst zu Hause unterrichten zu lassen. Dann die Wende: Die Behörden reagieren im September 2017 – nicht aus geänderter Überzeugung, sondern einzig um des lieben „Schulfriedens“ willen, wie sie betonen. Die Stadt lässt im Schulhof Container aufstellen und die Kinder darin unterrichten. Seit dieser Maßnahme sind die Schülerinnen und Schüler nach übereinstimmenden Berichten beschwerdefrei. Ein Zufall?

Umweltgift Naphtalin kommt aus dem Boden

Alles beginnt im September 2015. In der ehemalige Fildekenschule werden Umweltgifte gemessen, die aus dem Boden ausgasen. Allen voran Naphtalin. Die Verwaltung informiert die Schulleitungen der Melanchthonschule und der Werner-von-Siemens-Schule. Erstere unterrichtet bereits in dem besagten Gebäude, zweitere soll demnächst dorthin ziehen.Im Dezember 2015 steht fest: Die gemessenen Schadstoffkonzentrationen liegen in einigen Räumen über dem vom Gesetzgeber festgelegten Vorsorgewert, aber unter dem als kritisch anzusehenden Risikowert.

Die Verwaltung lässt einige Räume schließen und ordnet in anderen regelmäßiges Lüften und Wischen an. So wird dort weiter unterrichtet. Sechs Monate ziehen ins Land. Einige Eltern werden nervös. Sie verlangen Informationen. Die aber gibt es selbst auf Nachfrage nicht. Erst im April 2016 geht die Stadtverwaltung an die Öffentlichkeit. Wird hier etwas verheimlicht? Made in Bocholt fragt nach. „Die Verwaltung hat die Schulleitungen der Melanchthonschule und der Werner-von-Siemens-Schule fortwährend über den Sachstand zur Problematik der Schadstoffbelastung und die sich daraus ergebenden Planungen für beide Schulen auf dem Laufenden gehalten“ schreibt Stadt-Pressesprecher Karsten Tersteegen und dokumentiert entsprechende Gespräche und Ortstermine. Warum kamen diese Informationen aber bei einigen Eltern nicht an? Das kann sich die Stadtverwaltung auch nicht erklären. „ An einigen Terminen waren Elternvertreter anwesend, so dass die Verwaltung davon ausgehen darf, dass über die Schulleitungen bzw. Vertreter der Schulpflegschaft regelmäßig Sachstandsinformationen auch an die Eltern geflossen sind bzw. fließen“, meint Tersteegen. Genau das aber scheint an der Melanchthonschule offenbar nur eingeschränkt geschehen zu sein. Das schürt das Misstrauen.

Eltern der Melanchthonschule beklagen mangelnde Information

Zwischenzeitlich hat Alexandra Wildenheim, die Mutter eines ebenfalls betroffenen Mädchens, eher zufällig ein Exemplar eines Gutachtens in die Finger bekommen. Sie hat es mit dem Smartphone Seite für Seite abfotografiert und an andere Eltern verteilt. Wildenheim fragt nach eigenen Angaben mehrfach bei der Schulleitung und im Rathaus nach, bekommt aber keine Antworten. Die Mutter nimmt die Sache selbst in die Hand, lässt sich später zur Schulpflegschaftsvorsitzenden wählen und macht Druck.

Anders gehen die Verantwortlichen der benachbarten Werner-von-Siemens-Realschule mit der Problematik um. Die Schule weigert sich, in das kontaminierte Gebäude zu ziehen. Mit Erfolg. Für sie werden bereits 2016 Unterrichtscontainer aufgestellt. Schulleiter Wolfgang Boeck erklärt später in einem WDR-Interview die Gründe für den Widerstand: „Weil ich Bedenken hatte. Ich bin ein vorsichtiger Mensch, wenn es um meine Verantwortung geht. Ich bin verantwortlich für die Gesundheit der Kinder und Kollegen“.

Kinder sitzen in dicken Wintermänteln im Klassenzimmer

In der Melanchthonschule äußerst man derartige Bedenken offiziell nicht und folgt stattdessen den Empfehlungen der Verwaltung und der Gutachter von der Wessling GmbH in Altenberge. Die raten, die erhöhten Naphtalinwerte durch regelmäßiges Lüften und Wischen zu senken.  So kommt es dazu, dass die Kinder zeitweise im Winter mit dicken Mänteln und Schals bei geöffnetem Fenster unterrichtet werden. Am einem nach Aussagen von Zeugen erhöhten Krankenstand ändert das wenig. Manche Kinder weisen mehr als 300 krankheitsbedingte Fehlstunden auf. Viele Eltern und Kindern gehen auf die Barrikaden. Aber selbst ein öffentlicher Schulstreik zeigt keine Wirkung.

Bocholts Kämmerer Ludger Triphaus und seine Kollegen beharren auf dem gutachterlich untermauerten Standpunkt, dass so lange in den Räumen unterrichtet werden werden kann und darf, wie der vom Bundesumweltamt festgesetzte Gefahrenwert von 30 Mikrogramm nicht überschritten wird. Als sich bei einer erneuten Untersuchung einige Werte diesem Punkt nähern, werden wieder Räume geschlossen und die Kinder in vermeintlich weniger belastete Zimmer verbracht. Ob das allerdings ausreicht, um die Kinder dauerhaft zu schützen, ist fraglich. Eine verlässliche Prognose über die künftige Entwicklung der Schadfstoffkonzentrationen wollen selbst die von der Stadt Bocholt  beauftragten Gutachter nicht abgeben. Made in Bocholt fragt nach. Vergeblich. Die Wessling GmbH verweigert jede Stellungnahme und verweist auf ihren Auftraggeber.

Renommierter Umweltmediziner spricht von „gesundheitlicher Gefährdung“

Andere Experten widersprechen der Stadt und deren Experten. So der Vorsitzende des Deutschen Berufsverbandes Klinischer Umweltmediziner, Dr. med. Frank Bartram. Er sieht sich die umstrittenen Bocholter Messergebnisse  an und stellt in einem Interview mit dem WDR fest: „Diese Werte sind für die Kinder, die dort exponiert sind, mit Sicherheit eine gesundheitliche Gefährdung.“

Wie aber kommt es zu solchen eklatanten Widersprüchen in den Aussagen der Fachleute? Ein Grund liegt wohl in der unterschiedlichen Beurteilung von Messergebnissen und deren Auswirkungen. Der amtliche Risikowert von Naphtalin liegt offiziell bei 30 Mikrogramm pro Kubikmeter Raumluft – und zwar deshalb, weil Naphtalin lediglich im Verdacht steht, krebserregend zu sein. Wäre tatsächlich bereits der Nachweis einer krebserregenden Wirkung erbracht, müsste schon bei geringsten Mengen alle Unterrichtsräume geschlossen werden. Unterdessen warnen selbst die Berufsgenossenschaften in ihrem Gefahrstoffinformationssystem Chemikalien: „Sensibilisierte Personen können schon auf sehr geringe Konzentrationen an Naphthalin reagieren und sollten deshalb keinen weiteren Kontakt mit diesen Stoffen haben.“ Selbst bei Werten weit unter den Vorsorgegrenzen, die in Bocholt deutlich überschritten werden, kann es nach Ansicht von Fachleuten zu spürbaren Krankheitssymptomen kommen.

Vater verlangt von Schulleitung und Verwaltung Unbedenklichkeitsbescheingung

Kämmerer Ludger Triphaus und sein Dezernentenkollege Thomas Waschky sehen das anders. Ein Verlagerung der Klassen sei unnötig, betonen sie bis heute. Der Vater eines betroffenen Kindes hat die Nase voll. Er spricht nach eigenen Angaben bei der Schulleitung und dem Jugendamt vor und verlangt die Ausstellung einer Art Unbedenklichkeitsbescheingung. „Damit ich im Notfall die Verantwortlichen später persönlich verklagen kann. Das bin ich meinem Sohn schuldig“, berichte er gegenüber Made in Bocholt. Aber niemand will ihm nach eigenen Angaben ein solches Papier ausstellen und unterschreiben. Gibt es also doch ein Restrisiko?

Die  Politik vertraut den Informationen durch die Fachämter. Erst in der Ratssitzung am 20. September 2017 gibt es nach kritischen Berichten des WDR-Magazins Markt und von Made und Bocholt erste Nachfragen. „Hat es an der Melanchthonschule verstärkte Krankmeldungen geben?“ will die Stadtverordnete Vera Timotijevic (Die Grünen) wissen. Erwiderung des Kämmerers Ludger Triphaus: „Davon ist mir nichts bekannt!“ Eine solche Antwort gilt bei Rhetorikern als Ausweichmanöver. Sie klingt wie ein „Nein“, ohne das tatsächlich auch so zu sagen. Auf diese Weise verhindert der Befragte ein eindeutige Aussage und Position. Oder er weiß es tatsächlich nicht. In dem Fall hätte er sich nicht ausreichend erkundigt. Der Rat gibt sich zufrieden. Weitere Nachfragen bleiben aus.

Kämmer spricht von 3, Feuerwehr von 7 Rettungseinsätzen an der Schule

Auf die Frage nach der Zahl der Rettungseinsätze an der Melanchthonschule in den vergangen zwei Jahren, die ein weiteres Indiz für den Ernst der Lage am Mühlenweg sein könnte, antwortet Ludger Triphaus, er wisse von drei Rettungswageneinsätzen in zwei Jahren. Das passt nicht zu den Aussagen der Eltern. Made in Bocholt fragt deshalb bei der Feuerwehr nach. Das Ergebnis: Es waren nicht – wie Triphaus gesagt hat – drei, sondern sieben Rettungseinsätze in den vergangenen zwei Jahren und damit mehr als doppelt so viel.

Mehr noch erzürnt die Betroffenen indes die anschließende Wertung des Verwaltungsvorstandes. Was den Vätern und Müttern schlaflose Nächte bereitet und teilweise maßlose Wut ausgelöst hat, nennt Ludger Triphaus in der September-Ratssitzung einen „Hype“. Die ärztlich attestierten gesundheitlichen Probleme von Kindern reduziert er auf den Begriff „Befindlichkeiten“. „Eine bodenlose Unverschämtheit“, kommentiert die Mutter der 16-jährigen Natalie P. Sie zeigt Made in Bocholt Bilder von den flächendeckenden Hautausschlägen ihrer Tochter und fühlt sich von Verwaltung sowie Politik regelrecht verhöhnt.

In die gleiche Kerbe schlägt die Schulpflegschaftsvorsitzende Alexandrea Wildenheim. Sie erklärt: „Mich wundert es nicht, dass der Verwaltung von gesundheitlichen Problemen unserer Kinder nichts bekannt ist. Bei uns hat sich ja auch bis heute noch kein einziges Mal jemand von denen danach erkundigt!“

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