1946 – ein Land wagt den Neuanfang



Grenzlandbesuch der Landesregierung mit Ministerpräsident Karl Arnold (5. v. l., mit Hut), Kultusministerin Christine Teusch (1. v. l.), Justizminister Dr. Artur Sträter (8. v. l.) und Landwirtschaftsminister Heinrich Lübke am 22.11.1948 in Bocholt. Der Bocholter Stadtdirektor Ludwig Kayser (4. v. l.) und der Borkener Landrat Hans Renzel (4. v. r.) machen auf zerstörte Gebäude und die Nissenhütten an der Kurfürstenstraße für die Volksschule aufmerksam. Das Bild dokumentiert den Neuanfang im damals jungen Land Nordhrein-Westfalen.

Vor 75 Jahren, im Sommer 1946, wurde das Land Nordrhein-Westfalen (NRW) gegründet. Es galt lange als das „industrielle Herz“ und „soziale Gewissen“ der Bundesrepublik Deutschland. Auf Befehl der britischen Militärregierung wurden die Nord-Rheinprovinz und die Provinz Westfalen zusammengelegt. Es entstand mit mehr als 17 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste Bundesland und eine starke Wirtschaftsregion. Noch immer werden mehr als 20 Prozent der Wirtschaftsleistung hier erbracht. Politische und gesellschaftliche Neuerungen nahmen in NRW oft ihren Ursprung und mancher politische Wechsel kündigte sich zunächst in Düsseldorf an. Obwohl es bei der Gründung Vorbehalte in Westfalen und auch im Landkreis Borken gegen die Zentrale im Rheinland gab, hat sich ein gemeinsames Landesbewusstsein entwickelt und NRW ist die landespolitische Heimat geworden. Gerade in jüngster Vergangenheit bestimmen Menschen aus dem Westmünsterland das landespolitische Geschehen in verantwortungsvoller und herausragender Position mit.

Als im Juli 1946 die britische Militärregierung den westfälischen Oberpräsidenten Rudolf Amelunxen am Hindenburgplatz in Münster aufsuchte und ihm das Amt des Ministerpräsidenten anbot, hatte sich das britische Kabinett zuvor entschlossen, in seiner Besatzungszone eigene Länder zu gründen. Mit der Befreiung vom Hitler-Regime und der Kapitulation vom 8. Mai 1945 war Deutschland in vier Besatzungszonen aufgeteilt worden. Das Münsterland gehörte wie die gesamte Provinz Westfalen und das Land Lippe zur britischen Besatzungszone, während der nördliche Teil der Rheinprovinz der britischen und der südliche Teil der französischen Besatzungszone zugesprochen worden waren. Auf der Potsdamer Konferenz im August 1945 hatten sich die Siegermächte auf eine Demokratisierung und Entmilitarisierung Deutschlands verständigt, wozu auch eine Auflösung des übermächtigen Landes Preußen und damit eine Neuordnung der Länder gehören sollte.

Doch wie sollte diese Neuordnung in der britischen Besatzungszone an Rhein, Ruhr und Weser aussehen? Auf das Ruhrgebiet, obwohl Teil der britischen Besatzungszone, erhoben sowohl die Sowjetunion als auch Frankreich Ansprüche. Nie wieder sollte das Ruhrgebiet zur Waffenschmiede Deutschlands werden. Frankreich forderte, Teile des Rheinlandes von Deutschland abzutrennen sowie das Ruhrgebiet politisch und wirtschaftlich zu internationalisieren. Die zunehmenden Schwierigkeiten bei der Nahrungsmittelversorgung bestärkten die Briten aber in dem Entschluss, eigene leistungsfähige Länder zu bilden, die sich selber versorgen könnten. Mit der Bildung des Landes NRW sollten die von einer leistungsstarken Vieh- und Landwirtschaft geprägten Teile Westfalens mit dem von Bergbau und Schwerindustrie geprägten Ruhrgebiet und den Handelszentren am Rhein verbunden werden. Im Zuge des beginnenden kalten Krieges entschlossen sich die drei Westmächte eine Teilung Deutschlands in eine Ost- und Westhälfte in Kauf zu nehmen. Mit Verordnung Nr. 46 vom 23. August 1946 teilte die britische Militärregierung der Bevölkerung die „Auflösung der Provinzen des ehemaligen Landes Preußen in der britischen Zone und ihre Neubildung als selbständige Länder“ unter Zusammenfassung der Nord-Rheinprovinz und der Provinz Westfalen zum Land Nordrhein-Westfalen mit. Unter dem Namen Operation „Marriage“ begannen die organisatorischen Vorbereitungen: Als Landeshauptstadt wurde das rheinische Düsseldorf bestimmt und der westfälische Oberpräsident Dr. Rudolf Amelunxen wurde von der britischen Militärregierung zum ersten Ministerpräsidenten ernannt. Als Amtssitz wählte er das direkt am Rheinufer gelegene Mannesmann-Verwaltungsgebäude, das aktuell zu einem Haus der Geschichte des Landes NRW umgebaut wird.

Bei der Verbindung von Nordrhein und Westfalen handelte es sich sicher nicht um eine Liebesheirat, doch bestanden zwischen beiden Landesteilen schon lange enge wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen, und beide waren seit 1815 preußische Provinzen und besaßen somit eine gemeinsame Vergangenheit.

Auf der am 26. Juli 1946 morgens um 10 Uhr im Kolpinghaus zu Borken tagenden Kreistagsitzung führte der Borkener Landrat Hans Renzel aus. „Die Sitzung steht im Zeichen der neuen Länderbildung, die vom Kontrollrat in Berlin angeordnet worden ist. Wir wollen in einer ganz grossen Schau sehen, was das für uns zu bedeuten hat. Ein neues Land: Rheinland-Westfalen. Wir wollen gleich zum Ausdruck bringen, daß, wenn uns schon ein neues Land zugesprochen wird, daß wir hierbei den Gedanken vertreten wollen, daß wir als Westfalen eine Einheitlichkeit in diesem Lande zu bilden wünschen, daß unsere eigene Art als Westfalen aber gewahrt werden muss. Wir wollen in brüderlicher Zusammenarbeit mit dem Rheinland stehen. Wir wissen, daß wir eine große Gemeinschaft bilden müssen. Wir wünschen, daß unter dieser Voraussetzung, daß Land gebildet worden ist und damit das Ruhrgebiet ungeteilt in diesem Lande lässt.“

Als Mitglied des beratenden Provinzialrates für Westfalen und Mitbegründer und erster Kreisvorsitzender der CDU kannte Hans Renzel die gerade in Westfalen vorherrschende Angst gegenüber einer Bevormundung aus dem Rheinland und dem Verlust der westfälischen Identität nur zu gut. Diesen westfälischen Vorbehalten begegnete die Militärregierung, indem sie für die Einberufung des ersten ernannten Landtags die Zahl von 100 rheinischen und 100 westfälischen Abgeordneten festlegte. Damit blieb die größere Bevölkerungszahl im rheinischen Landesteil unberücksichtigt. Auch sollten die Mitglieder des ersten Kabinetts je zur Hälfte aus rheinischen und westfälischen Vertretern gebildet wurden, jedoch gewannen schon bei der ersten Kabinettsumbildung die rheinischen Vertreter die Überhand. Nach der im April 1947 durchgeführten Landtagswahl wurde die CDU stärkste Partei und Karl Arnold (CDU) vom Landtag zum neuen Ministerpräsidenten gewählt. Dem ersten Kabinett gehörten neben ihm vier weitere CDU-Minister sowie drei Sozialdemokraten, zwei Kommunisten und der inzwischen wieder dem Zentrum beigetretene Amelunxen, nun als Sozialminister, an. Erste Ministerin wurde nach dem Rücktritt von Kultusminister Heinrich Konen (CDU) am 17.12.1947 die Christdemokratin Christine Teusch aus Köln, die das Schul- und Kultusministerium bis Juli 1954 leitete.

Die große Mehrheit der Menschen bewegte in dieser Zeit aber weniger die Landespolitik als vor allem die tägliche Versorgung mit Nahrungsmitteln und die Suche nach einem Dach über dem Kopf. Vielfach belastete die Menschen auch die Ungewissheit über den Verbleib von Familienangehörigen und Freunden, die als Ausgebombte, Evakuierte, Flüchtlinge, Kriegsgefangene oder Vertriebene durch Europa irrten. Auf der Kreistagssitzung vom 26. Juli 1946 beschreibt Oberkreisdirektor Dr. Hans Strunden (Altkreis Borken) in seinem
Verwaltungsbericht die Not der Nachkriegszeit mit nüchternen Zahlen wie folgt:
„Die Kreisbevölkerung ist am 1.7.1946 von 57.918 auf 70.776 mit Evakuierten und Ostflüchtlingen gestiegen. Der Kreis soll noch weitere 6.000 Ostflüchtlinge aufnehmen; es wird der letzte verfügbare Raum dafür in Anspruch genommen werden müssen, und selbst dann ist es unmöglich, für eine so hohe Zahl Unterkünfte im Kreis zu finden. Die bisher gekommenen Flüchtlinge waren überwiegend Frauen und Kinder und eine große Zahl von Alten, Kranken und Invaliden. Die Kreisverwaltung schafft deshalb in Rhedebrügge ein Altersheim für Flüchtlinge, für das schlesische Ordensschwestern – ebenfalls Flüchtlinge – gewonnen werden konnten. […]
Der Gesundheitszustand im Kreis ist infolge der unzureichenden Ernährung, der unhygienischen Wohnverhältnisse und des Zuzugs der Flüchtlinge nicht gut. Die durchschnittliche Dauer der Erkrankungen und der Arbeitsunfähigkeit ist auf das Doppelte gestiegen. Die Säuglingssterblichkeit beträgt 13,9%, sie ist um das Doppelte erhöht. Die Zahl der Tuberkulosen ist um das Dreifache gestiegen. Deshalb sind Verträge über den Ausbau des Hauses Tenking bei Rhede zu einem Tuberculoseheim abgeschlossen, für die Ordensschwestern gewonnen worden sind.

Im Kreise sind 1130 Wohnungen total zerstört, 3260 in verschieden schwerer Weise beschädigt, darunter 250 landwirtschaftliche Betriebe.“
Neben der Überwindung des allgegenwärtigen Mangels und der katastrophalen Ernährungslage war der Aufbau eines demokratischen Gemeinwesens vorrangiges Ziel der Militärregierung. Der Aufbau sollte auf kommunaler Ebene in den Gemeinden und Städten beginnen und über die Kreise und Länder zu einer Neuordnung der politischen und staatlichen Ordnung in Deutschland erfolgen. Schon im Sommer 1945 hatte die Militärregierung daher begonnen, Beiräte für die Kommunen und Kreise zu bilden. Die Zusammensetzung sollte den politischen Verhältnisse aus der Zeit vor 1933 entsprechen, und es sollten nur politisch unbelastete Personen und keine (führenden) Nationalsozialisten berufen werden. Mit dem Zusammentreten der beratenden Kreistage machte die Wiedergewinnung der politischen Autonomie auf der untersten Verwaltungsstufe einen großen Schritt nach vorne. Zur politischen Zukunft vertrat der Gouverneur der Britischen Militärregierung Oberst Spottiswoode auf der ersten Sitzung des beratenden Borkener Kreistags am 19. Februar 1946 die „Ansicht, dass die Deutschen auch jetzt noch nicht ganz sich selbst regieren können… Deshalb lassen wir jetzt den Deutschen selbst seine eigene Meinung klarlegen. Die Deutschen müssen gut unterrichtet sein über alle Demokratie…“ und schloss die Ansprache mit den Worten: „Wenn sie diese Richtlinie befolgen, so werden die Engländer so gerne nach Hause gehen, wie Sie sie werden gehen sehen.“

Auf Weisung der Militärregierung bereitete die Kreisverwaltung die ersten demokratischen Wahlen nach zwölf Jahren Diktatur und Nationalsozialismus vor. Wahlberechtigt sollten alle Männer und Frauen ab 21 Jahren sein, die in einem Wahlregister eingetragen und keine führenden Nationalsozialisten gewesen waren. In einem Aufruf „Örtliche Wahlen. Wählen ist die erste Bürgerpflicht“ vom August 1946 warb die Militärregierung für eine Teilnahme an den Wahlen „Die Stärke der Demokratie liegt bei den Gemeinden mit ihren deutschen Männern und Frauen. Es ist mit den Wahlen der erste Schritt in der Richtung getan, um Herr im eigenen Hause zu werden.“

Aus den ersten demokratischen Wahlen für die Gemeinde- und Amtsvertretungen am 15. September 1946 und für den Kreistag am 13. Oktober 1946 ist die CDU im Westmünsterland als stärkste Partei hervorgegangen. Sie konnte aufgrund des Mehrheitswahlrechts nach britischem Vorbild alle Direktmandate für die Kreistage der beiden Altkreise Ahaus und Borken gewinnen. Über die Reserveliste zog die SPD mit drei Mitgliedern und das Zentrum mit einem Mitglied in den Kreistag von Ahaus ein. Zum ersten Landrat wurde der Rechtsanwalt und Notar Dr. Bruno Vagedes (CDU) aus Ahaus gewählt. Im Borkener Kreistag war die CDU als stärkste Fraktion mit 32 Mitgliedern, das Zentrum mit vier Kreistagsmitgliedern als zweitstärkste Fraktion und die SPD mit zwei Mitgliedern vertreten. Nur eine Frau, die Berufsschullehrerin Anna Fiebig aus Borken-Gemen, war im Kreistag vertreten. Zum ersten Landrat wurde der Bildhauer Hans Renzel (CDU) aus Borken gewählt.

Bei den ersten Landtagswahlen in NRW vom 20. April 1947 wurde die CDU landesweit stärkste Partei und Dr. Rudolf Amelunxen (Zentrum) als Ministerpräsident durch Karl Arnold (CDU) ersetzt. Das wiedererwachte Zentrum war vor allem der CDU im katholischen Münsterland ein ernsthafter Konkurrent. Im Wahlkreis Ahaus hatte die CDU Bruno Vages, die SPD den Angestellten Julius Feldkamp aus Legden, das Zentrum Verkehrsminister Dr. Fritz Stricker aus Münster, die KPD ihren Parteisekretär Rudolf Frey aus Gronau und die deutsche Rechtspartei (DRP) den Postinspektor Ferdinand te Vorde aufgestellt. Den Wahlkreis Ahaus vertrat ab 1947 Landrat Bruno Vagedes (CDU) und der Wahlkreis Borken-Bocholt Landrat Hans Renzel (CDU) in Düsseldorf.

Quellen und Literatur:
Kreisarchiv Borken, Bestand AH 03 Landkreis Ahaus Nr. 182, Nr. 242, und BOR 03 Landkreis Borken Nr. 170, Nr. 386, Nr. 387
Christoph Nonn: Geschichte Nordrhein-Westfalens. München: Beck 2009
Ansgar Weißer: Die innere Landesgründung Nordrhein-Westfalen. Konflikte zwischen Staat und Selbstverwaltung um den Aufbau des Bundeslandes (1945-1953). Paderborn 2012 (Forschungen zur Regionalgeschichte 68)

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