Die qualvolle Odyssee eines Mädchens – Teil 2: Das Wilkie-Syndrom



Eine dreiteilige Reportage von BERTHOLD BLESENKEMPER

Jasmin (Name geändert) hat die Zukunft noch vor und dabei eine Vergangenheit voller Qualen hinter sich. Die heute 16-jährige Bocholterin leidet an einem seltenen Syndrom. Die Krankheit hat es ihrem Körper lange Zeit unmöglich gemacht, ausreichend Nahrung aufzunehmen. Ärzte haben das über Jahre nicht erkannt. Jasmin wurde falsch behandelt, in eine Psychatrie eingewiesen, teilweise zwangsernährt und oft mit starken Schmerzen alleine gelassen. Erst Anfang diesen Jahres retteten die richtige Diagnose und eine anschließende Operation dem völlig abgemagerten Mädchen das Leben. Seitdem tastet sich die Bocholterin mit ihren nur noch rund 30 Kilogramm Haut und Knochen mühsam Bissen für Bissen ins Leben zurück.

Teil 2: Das Wilkie-Syndrom

Jasmin hat alles versucht. Sie war bei unzähligen Ärzten und Heilpraktikern. „Sogar einen Schamanen haben wir konsultiert“, erinnert sich Vater Jan. Nichts hat geholfen. Bis zu einem unvergesslichen Tag kurz vor Weihnachten 2018. Zum x-ten Male befindet sich die Bocholterin, die zwischenzeitlich bis auf 25 Kilogramm abgemagert war, in einer Fachklinik – diesmal in einer auf Kinder spezialisierten Gastroenterologie. Auch dort kann man zunächst nichts finden. Jasmin bittet den Arzt flehentlich noch einmal nachzuschauen.  Es ist Mittag. Der Mediziner bedient das Ultraschallgerät und stutzt angesichts eines vollen Magens. „Wann hast du denn das letzte Mal etwas gegessen“, fragt er die Patientin. „Zum Frühstück“, antwortet Jasmin.

Der Arzt kann es nicht glauben und sieht noch einmal genauer hin – und noch mal – und dann noch einmal. Dann spricht er die Worte, auf die das Kind und die Eltern so unendlich lange gewartet haben. „Ich glaube, ich habe da etwas gefunden!“. Genaueres will der Mediziner angesichts der eher unklaren Ultraschallbilder noch nicht sagen. Er ist sich offenbar selbst nicht sicher und schreibt deshalb schnell eine Überweisung zu einem Radiologen. Dort wird kurz nach Weihnachten eine Magnetresonanztomographie durchgeführt. Es folgt die für alle zunächst unfassbare Nachricht für Jasmin: „Wir wissen, was du hast. Und wir können dir helfen!“

Arterie schnürt den Zwölffingerdarm ab

Die Bocholterin erhält ihre neue, diesmal richtige Diagnose. Sie leidet am Wilkie-Syndrom, einer sehr seltenen Kompressionserkrankung. Bei der schnürt eine von der Aorta im falschen Winkel abzweigende Arterie den Zwölffingerdarm fast komplett ab. Der kann die im Magen gelagerte und zum Teil bereits verflüssigte Nahrung nur in winzigen Mengen zum Darm weiterleiten. Es bildet sich ein andauernder Nahrungsstau. „Bei Jasmin war der Durchlass an dieser Stelle nur noch zwei bis drei Millimeter breit“, verdeutlicht Vater Jan. Die Folgen: Oberbauchschmerzen nach dem Essen, ständiges Völlegühl, anhaltende Übelkeit und in der Folge von allem Gewichtsabnahme bis hin zur extremen Abmagerung.

„Ich habe mich natürlich riesig gefreut, dass ich endlich wusste, was mir fehlt. Aber dann habe ich das mal gegoogelt und war schnell niedergeschmettert, weil das Wilkie-Syndrom nur so schwer zu behandeln ist“, erinnert sich die heute 16-Jährige. Schnelle Abhilfe verspricht eine Operation, bei der die falsch abzweigende Arterie von der Aorta gelöst und weiter unten wieder angenäht wird. Diese Methode ist allerdings mit hohen Risiken behaftet. Gleiches gilt für eine operative Durchtrennung und anschließende Verlegung des Zwölffingerdarms.

Künstliche Ernährung über einen Port

Jasmin und ihre Eltern entscheiden sich für eine zweite, konventionelle Methode. Dabei geht es darum, zwischen Arterie und Zwölffingerdarm ein dämpfendes Fettpolster aufzubauen. Das geht aber nur, wenn das Kind zunimmt. Im Februar 2019 wird Jasmin deshalb im Brustbereich ein Port gelegt. Über den wird ihrem Körper mittels eines Spezialrucksacks permanent hochenergetische Flüssignahrung zugeführt.

„Zunächst schien es zu funktionieren. Ich habe innerhalb von zwei Monaten viereinhalb Kilo zugenommen. Und wir haben dabei jedes kleine Knäckebrot als Erfolg gefeiert“, erinnert sich Jasmin. Aber das Verdauungssystem funktionierte nach wie vor nicht richtig. „Nachts lag das Knäckebrot wie ein Stein im Magen und ich habe Panikattacken bekommen,“ schildert das Mädchen. Außerdem verschlingt die Behandlung viel Zeit und Geld.

Immerhin: Jasmins in die Länge gezogener Magen, der sich wegen der über Jahre immer wieder angestauten Nahrung gebildet hat, ist zurückgegangen. Das werten die Ärzte als Erfolg und drängen ihrerseits auf das Absetzen der teuren Dauerinfusion. Als schließlich von Medizinern erneut zu einer ergänzenden psychatrischen Betreuung geraten wird, trifft Jasmin aus Angst vor dem erneuten Eingesperrtsein in einer Einrichtung eine Entscheidung: „Ich lasse micht operieren. Und wenn ich daran sterben sollte, dann ist es auch gut!“

Teil 1: Die Fehldiagnose

Teil 3: Zurück ins Leben

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert