Die qualvolle Odyssee eines Mädchens – Teil 3: Zurück ins Leben


Eine dreiteilige Reportage von BERTHOLD BLESENKEMPER
Jasmin (Name geändert) hat die Zukunft noch vor und dabei eine Vergangenheit voller Qualen hinter sich. Die heute 16-jährige Bocholterin leidet an einem seltenen Syndrom. Die Krankheit hat es ihrem Körper lange Zeit unmöglich gemacht, ausreichend Nahrung aufzunehmen. Ärzte haben das über Jahre nicht erkannt. Jasmin wurde falsch behandelt, in eine Psychatrie eingewiesen, teilweise zwangsernährt und oft mit starken Schmerzen alleine gelassen. Erst Anfang diesen Jahres retteten die richtige Diagnose und eine anschließende Operation dem völlig abgemagerten Mädchen das Leben. Seitdem tastet sich die Bocholterin mit ihren nur noch rund 30 Kilogramm Haut und Knochen mühsam Bissen für Bissen ins Leben zurück.
Teil 3: Zurück ins Leben
Jasmin ist verzweifelt und zugleich voller Hoffnung. Sie hat von der Klinik für Gefäßchirurgie im Evangelischen Klinikum Niederrhein in Duisburg erfahren. Dort behandeln Priv.-Doz. Dr. med. habil. Peter Fellmer und sein Team auch Patienten mit dem seltenen Wilkie-Syndrom. Oberarzt Jaser Al-Maqablah (Foto) hat eine neue Operationsmethode entwickelt. Die verspricht – selbst wenn dafür der komplette Bauchraum aufgeschnitten werden muss – ein deutlich vermindertes Risiko. Denn der Zwölffingerdarm und die Aorta werden nicht angetastet.
Stattdessen legt der Operateur um die linke Nierenvene, die unter der im zu flachen Winkel abzweigenden Darmarterie verläuft, eine wie eine Manschette aussehende Prothese. Die sorgt dafür, dass die darüberliegende Arterie nach oben gedrückt wird und sich in der Folge nicht mehr so stark auf den Zwölffingerdarm legen und diesen abklemmen kann.
Wie das Finden der Stecknadel im Heuhaufen
Bevor Jasmin als zweite Patientin überhaupt auf diese Weise operiert werden soll, bedarf es allerdings detaillierten Voruntersuchungen. „Wir müssen uns ganz sicher sein, dass der Eingriff auch wirklich notwendig ist. Nicht jeder mit einem zu flachen Winkel zwischen Darmarterie und Aorta hat auch Beschwerden. Und nicht bei jedem mit Beschwerden sind diese auch ursächlich auf diese anatomische Veränderung zurückzuführen“, erläutert Dr. Fellmer. Manchmal spielt tatsächlich doch die Psyche eine bedeutende Rolle. Das ist ein Grund dafür, warum die Diagnose Wilkie-Syndrom so schwierig und selten ist. „Es ist schon so ein bißchen wie das Finden der Stecknadel im Heuhaufen“, erläutert Fellmer weiter.
Bei Jasmin aber sind sich die Ärzte sicher, dass ihr nur ein Eingriff helfen kann. Sie bereiten für Januar 2021 alles vor. Und die OP gelingt – auch wenn das Mädchen das zunächst nicht glaubt. Denn sie quälen schlimme Schwerzen. „Ich bin aufgewacht und dachte, das halte ich niemals aus“, schildert die heute 16-Jährige. Nur langsam wird es von Tag zu Tag besser.
Der Darm muss werst wieder lernen zu arbeiten
Die Bocholterin ist ungeduldig. Sie will endlich wieder essen. Die Mediziner warnen. „So ein Darm ist nicht nur ein Organ, sondern auch ein großer Muskel. Und der muss, wenn er jahrelang nicht mehr richtig gearbeitet hat, erst einmal wieder daran gewöhnt werden“, erklärt Oberarzt Jaser Al-Maqablah. Aus dem gleichen Grund muss die Patientin parallel weiter künstlich ernährt werden. Die Dosis der hochenergetischen Flüssigkeit kann über Monate nur Stück für Stück reduziert werden.
Jasmin macht schnell Fortschritte. „Vorher habe ich eine Cherrytomate acht Stunden später noch im Magen gespürt. Jetzt gingen wenigstens schon mal Babybrei oder eine Buchstabensuppe durch“, schildert sie. Gleichwohl wird die 16-Jährige nachts immer wieder von Panikattacken gequält. „Dann spürst du etwas im Magen und denkst, dass alles für die Katz’ war“, beschreibt Jasmin ihren zwischenzeitlichen Gemütszustand.
Das erste halbe Brötchen gefeiert wie Weihnachten
Das erste halbe Brötchen, dass das Mädchen im Sommer zu sich nehmen kann, wird in der der Familie gefeiert wie Weihnachten. Heute kann die 16-Jährige sogar schon ein kleines Stück Pizza essen. 4500 Gramm hat die Bocholterin seit Sommer zugenommen. Und es wird Tag für Tag besser.
Jasmin hat die Schule gewechselt. An der alten fühlte sie sich nicht verstanden. Ganz anders am Euregio-Gymnasium. „Dort geht man auf sie ein“, berichtet Vater Jan. Für ihn hat die lange Odyssee seiner Tochter denn auch eine gute Seite. „Entweder du zerbrichst daran als Familie, oder es schweißt sich zusammen. Und bei Freunden, im Verein oder in der Schule trennt sich schnell die Spreu vom Weizen“, meint er.
Jasmin fiebert derweil ihrem 18ten Geburtstag entgegen. Ihre Motivation: endlich nicht mehr fremdbestimmt sein, endlich nicht mehr in eine Psychatrie zwangseingewiesen werden, endlich hinaus in die Welt – möglichst dorthin, wo man nicht mit dem Finger auf ihren nach wie vor mageren Körper zeigt und hinter ihr hertuschelt.
ENDE

