„Die Rolle der Frau und Familienwerte in nahöstlichen Gesellschaften“



Kreis Borken. Zur Fachtagung zum Thema „Gewalterfahrungen von Frauen und Kindern aus nahöstlichen Gesellschaften – Was sagen Religion, Tradition und Rechtssystem?“ hatte der Runde Tisch gegen häusliche Gewalt im Kreis Borken – GewAlternativen – ins Borkener Kreishaus eingeladen. Rund 170 Fachkräfte aus unterschiedlichen Bereichen waren der Einladung gefolgt. In seiner Begrüßungsansprache hob Landrat Dr. Kai Zwicker, der auch Schirmherr des Runden Tisches ist, hervor, dass das Thema erfreulicherweise auch viele haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angesprochen habe, die üblicherweise nicht zum Stammpublikum der Veranstaltungen des Runden Tisches gehörten. So seien auch zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter von Flüchtlings- und Migrantenorganisationen, Jobcentern, der Notfallseelsorge und der Ausländerbehörde anwesend. Das sei verständlich, da diese Personengruppen doch diejenigen seien, die tagtäglich mit Migrantinnen und Migranten arbeiteten und zur besseren Einordnung von Einstellungen und Verhaltensweisen viel Hintergrundwissen zu den kulturellen, religiösen und rechtlichen Unterschieden benötigten.
Mit der Islamwissenschaftlerin, Professorin Dr. Christine Schirrmacher, hatte der Runde Tisch eine ausgewiesene Expertin für das Thema gewinnen können. In ihrem Vortrag gab sie unter anderem einen Überblick über die Unterschiede hinsichtlich der Rolle der Frau und der Familienwerte zwischen nahöstlichen und westlichen Gesellschaften. Diese seien in nahöstlichen Gesellschaften vor allem auf dem Land in aller Regel weitaus traditioneller und eindeutiger definiert als in westlichen Gesellschaften. Jedes islamische Land habe seine eigene Geschichte und seinen ganz spezifischen kulturellen und traditionellen Hintergrund. Die Rechte des Einzelnen stünden weniger im Mittelpunkt, als viel mehr das Ansehen der gesamten Familie.
Die beiden nicht hinterfragbaren Grundkomponenten islamischer Eheverträge – basierend auf der Scharia – seien die Unterhaltspflicht des Ehemanns gegenüber der Ehefrau und die Gehorsamspflicht der Ehefrau. Eine Frau, die im islamisch-nahöstlichen Kontext in den Verdacht des Ehebruchs oder einer moralischen Verfehlung gerate, könne hart bestraft werden und zwar nicht durch ein gerichtliches Verfahren, sondern durch ihre Familie. Wenn eine Frau ihr Haus verlasse, betrete sie nach traditionellem Verständnis keinen „neutralen Boden“, ihr Handeln müsse entweder notwendig und zweckbestimmt sein. Ansonsten werde sie den Verdacht der Unmoral auf sich ziehen, wenn sie beispielsweise nur einen „Spaziergang“ im Dorf machen würde. Daher könne die bloße Vermutung oder ein Gerücht über ein von der Norm abweichendes Verhalten genügen, um eine Frau in Verruf zu bringen. Es gehe nicht darum, ob sie etwas Unehrenhaftes getan habe – sie habe sich dem Gerede ausgesetzt, das genüge.
Die beste Möglichkeit für Frauen in islamisch geprägten Ländern, diese Situation zu verändern, sei die die Verbesserung ihrer Bildung, so die Referentin. Erst sie ermögliche es den Frauen, sich gegen Vorschriften zu wehren oder verhelfe ihnen dazu, qualifizierte Berufe zu erlernen. Deshalb würden von vielen islamischen und nichtislamischen Fraueninitiativen Alphabetisierungskampagnen durchgeführt.
Wie in jedem Jahr gab der Landrat auch einige Zahlen der Polizeistatistik zum Oberthema „Häusliche Gewalt“ bekannt. Die Kreispolizeibehörde Borken habe von Januar bis September dieses Jahres 406 Fälle häuslicher Gewalt registriert. Im Vorjahr waren es 476 Fälle, also hier sei im Gegensatz zu den Vorjahren erstmals ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen. In 274 Fällen sei es zu Körperverletzungen gekommen, was im Vergleich zum Vorjahr ein leichter Anstieg sei. In 50 Fällen seien Strafanzeigen wegen gefährlicher Körperverletzung erstattet und in 211 Fällen Wohnungsverweise und Rückkehrverbote ausgesprochen worden. Diese Zahlen entsprächen in etwa den Zahlen des Vorjahres. In 169 Fällen seien die Opfer an Beratungsstellen vermittelt worden. Hier sei ein leichter Rückgang gegenüber dem Vorjahr zu verzeichnen. Damit habe die Polizei erstmals seit Jahren im Zeitraum von Januar bis September weniger Strafanzeigen zu bearbeiten als im Vergleichszeitraum des Vorjahres.
Das bedeute aber nicht zwangsläufig, dass die Zahl der Fälle häuslicher Gewalt auch tatsächlich zurückgegangen sei. Denn: Ein grundsätzliches Problem bei Zahlen zu häuslicher Gewalt sei die Dunkelziffer, die Schätzungen nach bei etwa 90 Prozent liege. Oft verschwiegen die Opfer die Vorfälle – aus Angst, Scham oder weil Kinder im Spiel seien. Es werde davon ausgegangen, dass lediglich 20 Prozent der Betroffenen Hilfe suchten. Dies zeige, wie wichtig es sei, das gemeinsame Engagement gegen häusliche Gewalt fortzusetzen und möglichst früh und präventiv mit entsprechenden Beratungsangeboten anzusetzen. Nur im Zusammenwirken aller Beteiligten könne es gelingen, das Dunkelfeld weiter zu erhellen. Der Landrat bedankte sich abschließend bei allen Aktiven des Runden Tisches GewAlternativen für ihr unermüdliches Engagement in diesem sensiblen Themenfeld.

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