„Zum Glück keine Leichen, aber unvorstellbare Zerstörung“



Bocholt. (Rü) Am frühen Dienstagabend des 4. August 2020 zerreißt um 18:08 Uhr Ortszeit eine Detonation im Hafen von Beirut die einsetzende Stille des Feierabends. 2.750 Tonnen explodierendes Ammoniumnitrat zerstören Teile des Hafens und richten Schäden in weiten Teilen der Stadt an. Dabei werden mindestens 220 Menschen getötet und mehr als 6.000 verletzt.

Keine 24 Stunden später hebt vom Frankfurter Flughafen eine THW Transportmaschine mit schwerem Gerät und 47 Spezialisten vom Boden ab. Mit an Bord: Bergungsexperte Josef Olbing aus Bocholt. Der 29-jährige verheiratete Kfz-Meister, der mit seiner Frau in Münster lebt und in Bielefeld arbeitet, ist mitten in der Nacht alarmiert worden: „Tatsächlich waren wir zu Besuch bei Verwandten in Bocholt. Um 1 Uhr wurde ich über das Unglück in Beirut informiert, ich habe dann meine Frau geweckt und wir sind nach Münster gefahren, um meine Ausrüstung zu packen.“

Josef Olbing ist Gruppenführer der schweren Bergungsgruppe des THW. In regelmäßigen Lehrgängen hat er sich fortgebildet, zudem muss er körperlich fit sein, dazu gehört auch die Tropentauglichkeit mit entsprechenden Impfungen. „Wenn das alles gegeben ist, kann ich mich bei der SEEBA (Schnelle-Einsatz-Einheit-Bergung-Ausland) bewerben. Das ist ein Personlapool aus rund 200 Leuten, wie Hundeführern, Ortungsexperten, Logistikern und eben Bergungsspezialisten, so wie ich.“

Sechs Stunden nach Alarmierung bleiben den SEEBA-Experten, um sich am Frankfurter Flughafen einsatzbereit zu melden. „Ich habe in Münster meine Ausrüstung gepackt, Reisedokumente zusammengesucht und bin dann von einem THW-Fahrer mit einem weiteren Kollegen aus Havixbeck sowie einem Bergungshund nach Rüsselsheim, ganz in die Nähe vom Flughafen Frankfurt, in den SEE-Treff (Schnelle-Einsatz-Einheiten-Treff) gebracht worden. Gleichzeitig läuft die Logistik im Hintergrund, dass unser Bergungsgerät und unsere Campausstattung rechtzeitig in Frankfurt lagern. Im Libanon ist jetzt auch Sommer, also im Prinzip ein ähnliches Wetter wie hier. Sehr viel Sonnenschein, hohe Luftfeuchtigkeit und Temperaturen über 30 Grad. Man fliegt rund vier Stunden bis nach Beirut, die Zeitverschiebung beträgt eine Stunde.“

In Rüsselsheim bereitet sich das Team anhand von Videos, Fotos und Plänen den Einsatz vor. „Natürlich bekommen wir auch die aktuelle Berichterstattung im Fernsehen und in den Sozialen Medien mit, aber wir brauchen spezielle Bilder und Lagepläne, die sich mit der Katastrophe aus bau- und bergungstechnischer Sicht beschäftigt.“

Während des Nachtfluges kehrt professionelle Ruhe ein. Manch einer ist mit sich selbst beschäftigt, andere versuchen zu schlafen und sammeln so Kraft für die bevorstehende Aufgabe. „Es gibt beim THW diese Regel: Wenn Du auf einen Einsatz wartest und Du kannst 5 Minuten stehen, dann kannst Du auch 5 Minuten sitzen. Und wenn Du 10 Minuten sitzen kannst, dann kannst Du auch 10 Minuten liegen. Auf dem Flug ins Einsatzgebiet gilt es Kräfte zu schonen, denn nach der Landung kann es sofort losgehen. Wenn man wie eine aufgeregte Schulklasse auf dem Weg in die Ferien rumzappelt, ist man am Ziel nicht einsatzbereit.“

In den frühen Morgenstunden am Donnerstag landet die Maschine in Beirut. Noch ist die Luft erträglich, die ersten Sonnenstrahlen beleuchten das Katastrophengebiet. Josef Olbing hat bisher stets geübt. Es ist das erste Mal, dass er einen Ernstfall erlebt. Entsprechend fokussiert ist der Bergungsprofi. „Meine Aufgabe sollte es sein, nach Verschütteten unter den eingestürzten Gebäuden im Hafengebiet zu suchen. Wir sind zwar psychologisch darauf vorbereitet, schlimme Bilder zu sehen, aber auf die Realität vor Ort kann man sich nur bedingt vorbereiten.“

In Beirut ist der Flughafen intakt. Die vom Militär organisierte Fahrt geht in die Unterkunft an der deutschen Schule, vorbei am Schadensgebiet. „An der Art und Weise, wie man mit uns bei der Passkontrolle und beim Covidtest umgegangen ist, haben wir bereits gemerkt, dass die Leute sehr dankbar waren, dass wir zur Hilfe kamen. Im Hafen war alles mit Strahlern hell erleuchtet, mein erster Eindruck war die immense Zerstörung, die von der Explosion angerichtet wurde.“ Die SEEBA-Truppe teilt sich in zwei Teams. Die einen fahren direkt zur Suche in den zugewiesenen Sektor im Katastrophengebiet, die anderen bauen das Camp auf. Josef Olbing gehört zum Team 2.

In der späten Nachmittagshitze geht auch er schließlich auf die Suche nach Verschütteten an der Unglücksstelle im Hafen. „Wir haben uns durch unseren vom Militär abgesperrten Bereich gearbeitet. Ich habe Gebäude gesehen, die völlig zerstört und in sich zusammengefallen waren. Da waren diese Überseecontainer, die sind in der Regel ziemlich schwer und massiv, die waren zusammengequetscht wie Coladosen. Es ging vorbei an komplett zusammengedrückten Autos, an stabilen Gebäuden waren die Fensterfassden rausgedrückt und zerstört, die Büroeinrichtungen und Geschäftsräume waren ein einziger Schutthaufen, die Decken waren runtergekommen.“ Zum Glück blieb es für Josef Olbing bei diesen Bildern, Verletzte oder Leichen fand der Bergungsexperte nicht. „Wie es da riecht, weiß ich nicht. Wegen Corona und möglicher giftiger Stoffe in der Luft tragen wir grundsätzlich ffp2 oder ffp3 Masken, nicht nur im Libanon.“

Etwa sechs, sieben Stunden hat das Team gesucht. „So ganz genau weiß ich das nicht mehr, man verliert sein Zeitgefühl.“ Bei der Rückkehr gelten strenge Hygienevorschriften. „Zuerst gehen wir mit unseren dreckigen Klamotten ins Schwarzzelt, dort ziehen wir uns komplett aus, anschließend waschen wir uns im Duschzelt, im Weißzelt schließlich liegt die eigene saubere Kleidung.“

Am Freitag vergangener Woche war die Suche nach Verschütteten abgeschlossen. Von da an gibt es eine neue Aufteilung der Trupps: „Wir gehen mit Bauchfachberatern durch die Gebäude und begutachten und bewerten sie auf Schäden. Andere nutzen die Zeit, um unser Gerät zu packen und uns auf den Abflug vorzubereiten.“ Bei Touren in die nähere Umgebung kommt es auch zu Begegnungen mit einheimischen Zivilisten: „Da war dieser örtliche Blumenhändler, der konnte kein Wort Deutsch oder Englisch, wir haben uns mit Händen und Füßen verständigt. Der Mann ist täglich vorbeigekommen und hat sich nach unserem Wohlbefinden erkundigt. Auch daran haben wir gesehen, wie sehr man unsere Hilfe geschätzt hat.“

Die Rettungskräfte kamen aus England, Frankreich, Russland und den Niederlanden. Mit einem Kameraen aus Emmerich trifft Josef Olbing auf einen einheimischen Libanesen, mit dem sich die Deutschen auf holländisch unterhalten. „Der hatte wohl eine Zeitlang in Amsterdam gelebt und fragte ‚English or Dutch?‘. Da haben wir gesagt ‚laten we in het nederlands praten‘.”

Am vergangenen Montagmorgen, um 4 Uhr startete der Rückflug von Beirut. „In Frankfurt wurden wir zunächst auf Corona getestet, ich bin aktuell trotz negativem Test in freiwilliger sechstägiger Isolation. Das macht das THW aus Verantwortung gegenüber Familien, Verwandschaft und der Gesellschaft.“ Morgen, am Samstag wird Josef Olbing nochmal getestet, dann kehrt er zurück in den normalen Alltag.

Von der Wut der Bevölkerung auf die Regierung über den wohl fahrlässigen Umgang bei der Lagerung des Ammoniumnitrats hat Josef Olbing nichts mitbekommen, seine Einsatzgebiete waren weit weg von den Unruheherden im Zentrum Beiruts. „Seit ich zurück bin, schlafe ich gut und auch tagsüber quälen mich keine Bilder von der enormen Zerstörung. Das THW tut aber auch alles, damit wir jede Unterstützung bekommen.“ Seinen ersten Einsatz wird er dennoch nie vergessen: „Ich werde im Oktober 30 und werde wohl auch in 30 Jahren noch von diesem Einsatz erzählen…“

Foto: THW Wenzel

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