„Das Trauma bleibt ein Leben lang“



Kreis Borken. Keine leichte Kost zu verdauen hatten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der diesjährigen Fachtagung des Runden Tisches gegen häusliche Gewalt – „GewAlternativen“. Rund 120 Interessierte waren ins Borkener Kreishaus gekommen, um sich über das schwierige und sensible Thema der weiblichen Genitalverstümmelung/Zwangsbeschneidung zu informieren. Mit Dr. Christoph Zerm aus Witten-Herdecke hatten die Verantwortlichen einen ausgewiesenen Experten eingeladen. Der Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe engagiert sich seit vielen Jahren im Kampf gegen die weibliche Genitalverstümmelung. Seit 2005 berät er beschnittene Frauen und erstellt Gutachten für die Anerkennung im Asylverfahren.
Der Schirmherr des Runden Tisches, Landrat Dr. Kai Zwicker, begrüßte zu Beginn die anwesenden Fachkräfte und legte dar, dass weltweit rund 200 Millionen Frauen und Mädchen von Zwangsbeschneidung betroffen seien. In Deutschland lebten geschätzt 50.000 Betroffene, zudem seien einige tausend Mädchen von Beschneidung bedroht. Die Dunkelziffer sei mutmaßlich hoch. Ein interdisziplinärer Zusammenschluss wie der Runde Tisch „GewAlternativen“ sei in besonderer Weise dazu geeignet, das höchst sensible Thema aufzugreifen, hierüber aufzuklären und vernetzt gegen diese Menschrechtsverletzung vorzugehen, so der Landrat.
Dr. Zerm gab in seinem Vortrag zunächst einen Überblick über die verschiedenen Typen der Zwangsbeschneidung, die für Frauen mit unvorstellbaren, ein Leben lang anhaltenden Schmerzen verbunden sei. Nicht selten würden Frauen mehrfach dem grausamen Ritual unterzogen, wenn im Kindesalter „zu wenig“ beschnitten worden sei. Er schloss die Darstellung der wichtigsten medizinischen, psychologischen und sozialen Folgeschäden an. In einigen Ländern sei nur ein geringer Prozentsatz der weiblichen Bevölkerung betroffen, in anderen Ländern wie Sudan, Somalia und Ägypten weit über 90 Prozent aller Frauen. Die Verbreitung reiche von Fernost (Philippinen, Malaysia, Indonesien) über Kurdistan, Südarabien sowie den mittleren Teil Afrikas bis nach Mittelamerika, mit Schwerpunkt in fast 30 afrikanischen Ländern.
Genaueres über die Ursprünge der weiblichen Beschneidung sei nicht bekannt. Erste Hinweise stammten aus dem dritten vorchristlichen Jahrtausend. Tradition, Religion, Initiation (der Übergang in die erwachsenen Geschlechterrolle) sowie die Unterdrückung der weiblichen Sexualität durch männliche Dominanz in patriarchalen Gesellschaften seien die wesentlichen Ursachen für die weibliche Genitalverstümmelung. Dabei sei diese keineswegs auf die islamische Welt beschränkt, betonte der Referent. Sie werde dort auch gar nicht überall praktiziert und bei genauer Betrachtung lasse sich die Zwangsbeschneidung religionsübergreifend durch keine schriftlich überlieferte Glaubensvorschrift begründen.
In den meisten Ländern, in denen die Genitalverstümmelung praktiziert werde, gelte dies als zwingende Voraussetzung dafür, dass ein Mädchen verheiratet werden kann. Erst durch die Verheiratung wiederum habe eine Frau die Chance, zur sozialen Gemeinschaft dazuzugehören. Unbeschnittene Frauen hingegen gelten als unrein und würden ähnlich wie Prostituierte betrachtet. Diese hätten keine Chance, einen Ehemann zu bekommen, hätten dadurch keine Zukunft und keine Lebensbasis und sie und ihre Familien seien fortan stigmatisiert. So sei es ein „Akt der Fürsorge“, wenn vor allem Mütter und Großmütter streng auf die Einhaltung dieser Sitte achteten. Dies sei für unsere Gesellschaft schwer nacvollziehbar, aber in den Ländern, in denen die Zwangsbeschneidung praktiziert werde, sozio-kulturell tief verwurzelt.
Die Süd-Nord-Migration habe dazu geführt, dass auch in Deutschland eine zunehmende Anzahl von Menschen lebe, in deren Herkunftsländern die Zwangsbeschneidung noch ausgeübt werde. Dies sei eine besondere Herausforderung für all diejenigen Berufe, die potentiell in Anspruch genommen werden könnten, vor allem im Gesundheitswesen. „Wichtige Bausteine zur Überwindung des grausamen Rituals sind Bildung sowie anatomisch-physiologische Kenntnisse – für Frauen und Männer“, konstatierte der Referent. Nicht selten würden weitere lebenswichtige Organe verletzt und der brutale Vorgang könne zum Tode führen. Wichtig sei außerdem die Ächtung durch die geistlichen Autoritäten sowie durch die Regierungen der einzelnen Länder.
Als positives Beispiel nannte Dr. Zerm das Land Eritrea, in dem durch breit angelegte, jahrelange Aufklärungskampagnen auf allen gesellschaftlichen Ebenen erreicht worden sei, dass die Bevölkerung die Schädlichkeit der Zwangsbeschneidung verstanden habe und diese inzwischen so gut wie nicht mehr praktiziere. Erst als letzter Schritt wurde ein Gesetz gegen diese Menschenrechtsverletzung erlassen und seither auch angewendet. Gesetze allein seien aber nicht hilfreich. „Entscheidend ist, Frauen durch Bildung und Aufklärung stark zu machen, denn nur dann können sie sich selber versorgen und ein selbstbestimmtes, unabhängiges Leben führen“, war das klare Fazit des Experten.

Referent Dr. Christoph Zerm (Mitte) und Landrat Dr. Kai Zwicker mit dem Organisationsteam des Runden Tisches „GewAlternativen“ (v. li.) Bettina Oste (Kreis Borken), Ruth Franzbach (Kreisjugendamt), Silke Hempen (Frauenhaus Bocholt), Irmgard Paßerschroer (Gleichstellungsbeauftrage Kreis Borken), Dagmar Reimer (Opferschutzbeauftragte der Kreispolizei Borken), Astrid Schupp (Gleichstellungsbeauftragte Stadt Bocholt) und Elisabeth Terhorst (Verein Frauen für Frauen, Ahaus).
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