Lesung zur Migration: „Gäste lässt man nicht arbeiten“



Lesung zur Migration: „Gäste lässt man nicht arbeiten“
Ragnar Leunig las aus dem Buch „Migration nach Bocholt“ // Mehrsprachigkeit als Kapital // Bocholt ist für viele zur zweiten Heimat geworden

Mit der Aussage „Gäste lässt man nicht arbeiten“, zeigte Ragnar Leunig, Mitautor von „Migration nach Bocholt“ und Ehrenpräsident der Europa-Union in der EUREGIO, dass er mit dem Begriff „Gastarbeiter“ nicht einverstanden ist. Er spricht lieber von „Wanderarbeitern“. Der ehemalige Leiter des Europainsitutes in Bocholt las am Sonntag erstmalig aus seinem Buch, das in der Reihe „Bocholter Quellen und Beiträge“ erschienen ist.

Bedingt durch Corona mussten alle vorher geplanten Lesungen ausfallen, jetzt ist es der Volkshochschule Bocholt-Rhede-Isselburg, dem Integrationsrat der Stadt Bocholt und der Deutsch-Türkischen Gesellschaft Bocholt gelungen, eine Lesung auf die Beine zu stellen.

Einwanderung begann mit den Holländern

Die Einwanderung habe zunächst mit den Holländern begonnen. „In den 1930er Jahren suchte vor allem die deutsche Rüstungsindustrie händeringend Arbeitskräfte. Und die kamen aus dem benachbarten Holland“, so Leunig. Während des Krieges wurden diese Arbeitskräfte dann als Zwangsarbeiter missbraucht. Ab 1939 gab es in Bocholt im Stadtwaldlager polnische und russische Kriegsgefangene, die täglich ins Ruhrgebiet gekarrt wurden.

Im Stadtwaldlager kamen nach dem Krieg zunächst Juden unter, die aber dann nach Palästina abreisten. Anschließend kamen viele Menschen aus der sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, und 1956 aus Ungarn.

Auswanderung beginnt mit Binnenwanderung

In Deutschland fehlte es an jungen Menschen, in den südlichen Ländern Europas war die wirtschaftliche Situation schlecht. „Auswanderung hat immer auch was mit Drucksituationen zu tun“, erläutert Leunig. „Entweder liegt es an der schlechten wirtschaftlichen Situation, oder aber auch an der politischen“. Antonio Liaci, einer der ersten Italiener, die nach Bocholt gekommen waren, berichtete, dass er gegen den Willen seiner Familie nach Deutschland aufgebrochen sei. Oft ging der Wechsel des Berufszweiges mit der Wanderung einher. „So kam es, dass türkische Handwerker, die schon der deutschen Sprache mächtig waren, sich um die Betreuung ihrer Landesleute kümmerten“.

Eine weitere Wanderungsbewegung gab es mit dem Familiennachzug in den 70er Jahren. Entgegen der Annahme, dass die „Gastarbeiter“ wieder in ihre Ursprungsheimat zurückkehren würden, lief es oft genau umgekehrt und die Familien wurden nach Deutschland geholt. „Da war es für den Familienvater mit acht Kindern schwierig, in Bocholt eine Wohnung zu finden, ein Willkommen gab es zu der Zeit nicht“, berichtet Leunig.

Angst vor den Behörden

Das Verhältnis von Zuwanderern zu Behörden sei ein zwiegespaltenes gewesen. „Auf beiden Seiten gab es Verunsicherung, teilweise Ängste“, berichtete Leunig. Zudem gab es immer wieder Verständigungsschwierigkeiten. „Hier zeigt sich schon zu Beginn, wie wichtig das Thema Zweisprachigkeit ist, Mehrsprachigkeit ist ein Kapital, das unserer Gesellschaft immer noch viel zu wenig bewusst ist“, betont Leunig.

Die ganze Welt ist Heimat

Ein Lob hatte er für die Selbstorganisation der Zuwanderer. „Aus Zwangssituationen sind sie – wenn die Arbeitsstelle weg war – in die Selbständigkeit gelangt, das ist heute ein großer Wirtschaftsfaktor.“

Heimat ist auch ein Stichwort, auf das Leunig einging. „Viele Menschen haben zwei Heimaten. Die, in die sie reingeboren wurden und die, in der sie jetzt leben und sich wohl fühlen“, sagte Leunig. „Die ganze Welt ist Heimat, das müssen wir in den Zeiten der Globalisierung, der weltumfassenden Krisen so sehen“, betonte Vedat Ergün, Vorsitzender des Türkischen Elternbundes in einem Einwurf. Für jeden gebe es aber zusätzlich auch seine ganz persönliche Heimat.

Integration in Bocholt gelungen

„Wir haben die Menschen vor 60 Jahren gebraucht und wir brauchen sie heute auch noch. Die Integration in Bocholt ist als gelungen zu bezeichnen. Auch wenn es – angesichts der Tatsache, dass sich 52 % der Zugewanderten in Deutschland nicht anerkannt fühlen – noch einiges zu tun gibt. „, sagt Leunig.

Integration: Lesung „Migration nach Bocholt“

Ragnar Leunig (links) las am 13.11.2022 aus dem Buch „Migration nach Bocholt“ – Foto: Bruno Wansing, Stadt Bocholt

Quelle: Stadt Bocholt

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