Missbrauch in der Kirche als „Perversion der Nächstenliebe“
Ausgerechnet in einem ehemaligen Gotteshaus rechnete Professor Dr. Thomas Großbölting gestern Abend mit den Bischöfen und vielen Priestern im Bistum Münster ab. Das Mitglied der Historikerkommission der Universität Münster stellte in der vor Jahren zur Aula des „Kapus“ umgebauten Laurentiuskirche den Bocholtern und Rhedern die Ergebnisse der jüngsten Missbrauchsstudie vor und sorgte dabei vielfach für ungläubiges Entsetzen. Seine Prognose: „Die Kirche wird sich nicht selbst am Schopf aus dem Sumpf ziehen können. Eine stärkere Intervention des Staates ist angebracht.“
Der gebürtige Dingdener, der 1988 am bischöflichen St.-Josef-Gymnasium Abitur gemacht hatte und sozusagen zu alter Wirkungsstätte zurückgekehrt war, sprach von systematischem Versagen der Kirchenführung. 196 Missbrauchsfälle hatte die Kommission untersucht. Die Dunkelziffer schätzt der Wissenschaftler aber acht- bis zehnmal höher ein.
Besonders schockierend waren neben den Taten selbst der Umgang damit. In einem Fall habe das Bistum einen wegen Kindesmissbrauch strafrechtlich verurteilten und bereits exkommunizierten Priester wieder ins Amt eingesetzt und so neue Taten ermöglicht. Die Kirche habe die Kinder den Tätern regelrecht zugeführt. „Sie wurden Opfer, nicht obwohl, sondern weil sie katholisch waren“, zitierte er den Rheder Selbsthilfegruppen-Leiter Martin Schmitz. „Mehr kann man Nächstenliebe nicht pervertieren“, so der Referent.
Auch auf die Fälle des Kaplans Heinz Pottbäcker (Rhede) und Theo Wehren (Barlo) ging Prof. Dr. Thomas Großbölting ein. Beide seien Serientäter gewesen und dennoch von der Kirche, die das wusste, geschützt worden. Im Fall Wehren sprach der Historiker sogar von eine unseligen Unterstützung der Staatsanwaltschaft und Justiz. Trotz ordnungsgemäßer Verurteilungen sei alles unternommen worden, die Fälle nicht an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen.
Großbölting bescheinigte der katholischen Kirche, im Umgang mit sexuellen Missbrauch durchaus positive Fortschritte gemacht zu haben. Er glaubt aber nicht, dass das reichen wird „Zynisch betrachtet hat sich das zwölfjährige Aussitzen des Problems bezahlt gemacht. Kein Bischof ist bislang zurücktreten, und die Politik mischt sich immer noch nicht ein“, so der Professor.