Stadtgeschichte: Spaziergang in die Nordstraße um 1910



Zwischen 1954 und 1959 veröffentlichte die Bocholter Erzählerin Anna Lindenberg (1884-1978) eine Aufsatzreihe unter dem Titel „Eine Wanderung vom alten ins neue Bocholt“. Dabei verband Lindenberg zunächst die mündlichen Überlieferungen älterer Zeitgenossen mit ihren eigenen Lebenserinnerungen, die durch ihre persönliche Heimatverbundenheit geradezu erstarkten.
Mit Hilfe alter Gerichtsakten unternahm sie einen Streifzug durch die Straßen des Stadtkerns und zeichnete so ein Bild von den Häusern und ihren Bewohnern aus der Vorkriegszeit.
Wie Frau Lindenberg den oberen Teil der alten Nordstraße vor Augen gehabt haben musste, offenbart das Foto mit einer Ansicht aus der Zeit um 1910. In der westwärts liegenden Häuserreihe fällt der Blick des Betrachters sogleich auf das Verlagshaus J. & A. Temming, der Geschäftsstelle des Bocholter [-Borkener] Volksblattes. Im Frühjahr 1908 hatte der Inhaber Amandus Temming das bisherige Verlagsgebäude in der Nordstraße 21 aufgegeben und die Besitzung einige Häuser weiter für den Zeitungsverlag, die Buchdruckerei und –binderei sowie für die Buch- und Kunsthandlung umbauen lassen. Gegenüber verweist das Schild auf die Färberei und Waschanstalt von Julius Renfert, der dort bis etwa 1912 arbeitete.
Auf der linken Seite, im Anschluss an Temming, folgt das Geschäftshaus des Kolonialwarenhändlers Karl Blumberg, der sich um die Jahrhundertwende selbstständig gemacht hatte. Im weiteren Verlauf reihen sich die Wohn- und Geschäftsbauten des Schneidermeisters Bernhard Kemming und des Anstreichermeisters Johann Remmen ein. Das darauffolgende Gebäude war das Elternhaus des 1907 zum Bischof von Poona/Indien ernannten Jesuiten Heinrich Döring SJ, der später mehrfach seine Heimatstadt besuchte.
In der Nachbarschaft wohnte auch der 1908 ins Amt gekommene Bocholter Bürgermeister Clemens Wesemann. Seine Privatwohnung befand sich im Hause Nordstraße 39. Im Hintergrund erkennt man links das nach einem Brand 1899 neu erbaute Geschäftshaus der Metzgerei Fliedorft an der Ecke zur Rebenstraße, ehe die Gebäude im weiteren Verlauf unkenntlicher werden. Die am Schluss aufragenden Bäume bilden das Ende der sich jenseits des Stadtgrabens und des Walles hinziehenden Nordstraße.
Die Viehstraße, so ihre alte Bezeichnung, zählt neben der Oster-, Neu- und Ravardistraße seit Jahrhunderten zu den Hauptverkehrswegen innerhalb der Stadt Bocholt. Unzählige Male wird ihr Name ab Mitte des 16. Jahrhunderts in den Schöffenprotokollen des Stadtarchivs überliefert. Im November 1900 forderten die Anwohner mit Hilfe einer Petition die Umbenennung in „Hochstraße“. Doch der Rat der Stadt blieb bei seiner vorausgegangenen Entscheidung, die Straße künftig als „Nordstraße“ zu bezeichnen.
Scan: Stadtarchiv Bocholt, Text: Wolfgang Tembrink

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert