Sensation: Rat und Verwaltung in Bocholt erfinden die Gemeindefinanzierung einfach neu

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Eine Glosse von BERTHOLD BLESENKEMPER

Not macht erfinderisch. Das gilt vor allem dann, wenn das Geld knapp wird. Deshalb haben sich Rat und Verwaltung jetzt zusammengesetzt und einige finanztechnische Begriffe extrem kreativ völlig neu definiert. Vorausgegangen war ein Streit um die Frage, wie man die notwendigen Investitionen künftig stemmen kann. Die CDU hatte vorgeschlagen, den in der Hauptsatzung festgeschriebenen Schuldendeckel in Höhe von 148 Millionen Euro auf rund 240 Millionen anzuheben. Die SPD wollte diese selbst auferlegte Grenze gar ganz weghaben, die Grünen wollten sie bei 148 Millionen Euro belassen, und die Stadtpartei wollte den Schuldendeckel nur hier und dort mal lupfen. Dann setzten sich die Fraktionschefs mit Kämmerer Kai Elsweier zusammen und sannen als Kompromiss eine schier geniale Lösung aus. Und die seht wie folgt aus:

Es bleibt rein formal beim Schuldendeckel in Höhe von 148 Millionen Euro. Das beruhigt alle, die sich Sorgen um die Stabilität des Haushaltes machen – allen voran die Grünen und die Kommunalaufsicht. Um dennoch deutlich mehr Geld ausgeben zu können, wird ein zusätzlicher „Darlehenskorridor“ in Höhe von 20 Millionen eingerichtet. Das kommt der Forderung der Union und der Stadtpartei nahe. Zusätzlich werden die rund 44,5 Millionen Euro für die Rathaussanierung einfach ausgeklammert. Man behält sie sozusagen im Sinn, um sie nach 30-jähriger Tilgung ganz verschwinden zu lassen.

Schließlich wird der Schuldendeckel perspektivisch durch ein „Schuldentragfähigkeitskonzept“ ersetzt. Dieses sieht vor, dass die Stadt in Zukunft so viel ausgeben darf, wie sie an Schulden und Zinsen tragen kann, was vor allem die SPD gutheißt. Letztendlich bedeutet es aber, dass die Politik künftig auf den Schuldendeckel pfeifen und machen kann, was sie will. Denn da wegen Konjunkturschwankungen und anderen Unwägbarkeiten niemand vorhersagen kann, was eine Stadt künftig an Schulden und Zinsen zu tragen fähig ist, kann man die Schuldenhöhe mittel- bis langfristig genauso gut auswürfeln, schätzen, raten oder von Wahrsagern prognostizieren lassen.

Hut ab aber vor dem Erfindungsgeist von Rat und Verwaltung. Ein ganz besonderes Beispiel dafür ist der Begriff „Darlehenskorridor“. Der ist so außergewöhnlich und funkelnagelniegelneu, dass ihn nicht einmal die allwissende Suchmaschine Google kennt. Ähnliches gilt für das wohlklingende Wort „Schuldentragfähigkeitskonzept“. Hier entdeckt Google jedoch wenigstens Übereinstimmungen mit dem Begriff „Konzept der Schuldentragfähigkeit“. Bei weed-online heißt es dazu: „Nach dem Beschluss der G8 Finanzminister in Evian vom Frühjahr 2003 soll Schuldentragfähigkeit nach der Definition von IWF und Weltbank in Zukunft auch als Ziel für Schuldenreduktionen des Pariser Clubs gelten. Auch bei einem Insolvenzverfahren für Staaten wäre die Definition von Schuldentragfähigkeit entscheidend für die Berechnung der Höhe von Schuldenerlassen.“ Wow, Bocholt auf Augenhöhe mit Griechenland und Italien. Das ist doch mal etwas.

Ich habe gestern bei dem Bankberater meines Vertrauens in der City-Haupstelle eine Kreditanfrage gestellt und diese mit meinem ganz persönlichen Darlehenskorridor und einem ausgeklügelten Schuldentragfähigkeitskonzept untermauert. Ich konnte ihn Stunden später noch lachen hören.

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