Volkes Daumen – Soziale Medien und ihre Auswirkungen auf die Lokalpolitik



Eine Analyse von BERTHOLD BLESENKEMPER

Peter Herden (Spitzname „Pet“) ist für viele Bocholter ein Held. Dem beliebten Donuthändler aus Bocholt wurde – wie von uns berichtet – wegen des Neubaus der Stadtsparkasse der Standplatz am Ende der Aa-Brücke an der Neustraße gekündigt. „Kein Problem“, dachte er sich, „dann ziehe ich eben auf die gegenüberliegende Straßenseite“. Doch Herden hatte die Rechnung ohne die Stadtverwaltung gemacht. Die sagte beharrlich „Nein“. Pet drohte heimatlos zu werden. Die Internetcommunity reagiert schnell und unerbittlich. Es hagelt Dislikes, Kommentare, Mutmassungen, Beschuldigungen und Bewertungen. Fast 1500 User unterzeichneten eine Online-Petitionen mit dem Titel „Der Donut-Stand von Peter gehört zu Bocholt“. Die Verwaltung knickte ein. Im kommenden Frühjahr darf der Donuthändler nun doch an die südliche Spitze des Cafes Extrablatt ziehen.

Der Fall zeigt, wie groß der Einfluss sozialer Medien auf kommunale Entscheidungen geworden ist. Pet ist dabei längst kein Einzelfall mehr. Bei der umstrittenen Ansiedlung des „Action“-Marktes am Westendkreisel waren Verlauf und Ergebnis der öffentlichen Diskussion ähnlich. Die Folge: Immer mehr entwickeln sich die sozialen Medien zu einem basisdemokratischen Messfeld, an dem auch die Kommunalpolitik nicht mehr vorbeikommt.

Das war vor Jahren noch anders. Da lebten Verwaltung und Stadtverordnete in einer kommunikativen Blase. Man kannte sich, duzte sich und blieb unter sich. Kritik von außen drang höchstens durch Zeitungskommentare oder Leserbriefe an Ohr der Entscheider. Die Folge war nicht selten eine verzerrte Wahrnehmung des Volkswillens. Der traf die gewählten Vertreter umso direkter und härter mit dem Siegeszug von Facebook und damit Volkes Daumen. Plötzlich hagelte es Meinung – massiv, unverfälscht, wenn auch nur selten sachlich und damit mindestens ebenso verzerrt wie die interne Meinungsbildung.

Die Diskrepanz zwischen realer und virtueller Meinung zeigte sich ganz besonders in der Diskussion um die umstrittene Sanierung des Rathauses. Waren bei der Bürgerinformation vor einem Monat überwiegend Verwaltungsbeamte und kommunalpolitisch Aktive anwesend und damit die Befürworter klar in der Mehrheit, ist die Stimmung im Netz anhaltend negativ.

Unbestritten ist derweil der Wandel in der Medienwelt. Communitys wie „We love Bocholt“, Gruppen wie „Bocholt Live“ oder Plattformen wie „Made in Bocholt“ überholen mit zwischen 28.000 und 16.000 Abonnenten die etablierten Medien an Reichweite und damit teilweise auch an Relevanz. Sie sind zudem extrem interaktiv und verzeichnen im Monat durchschnittlich Bewertungen, Kommentare oder geteilte Inhalte in sechsstelliger Anzahl.

Die Bedeutung solcher alternativen Medien hat auch die Landespolitik erkannt, die Stiftung „Vor Ort NRW“ gegründet und den Vor-Ort-NRW-Preis ausgelobt. „Wir wollen bewusst innovative Online-Projekte auszeichnen, die spannende Geschichten erzählen, neue journalistische Ansätze versuchen und damit die lokale Medienlandschaft in NRW bereichern. Mit der Kategorie Neue Stimme im Lokalen zeichnen wir zudem Projekte aus, die das lokale Medienangebot ergänzen und publizistische Lücken füllen“, so Geschäftsführerin Simone Jost-Westendorf während der Verleihung des Preis an eine Bocholter Nachrichtenplattform.

Viele Kommunen nehmen in Sachen Kommunikation, Reichweite und Relevanz das Heft inzwischen selbst in die Hand. Öffentliche Bekanntmachungen werden von ihnen mit Hilfe digitaler Amts- und Gemeindeblätter oder eigener Onlineportale an den Mann oder die Frau gebracht. Das ist nicht nur ein Vielfaches kostengünstiger und direkter, sondern erreicht wegen des Fehlens von Barrieren wie Bezahlschranken oder Abonnements – rein technisch betrachtet – mindestens 90 Prozent der Bevölkerung.

Auch die Stadt Bocholt ist in den digitalen und sozialen Medien aktiv. Allerdings beschränken sich ihre Aktivitäten dort auf reine PR. Politische Darstellungen und Diskussionen gibt es dort wegen der Neutralitätspflicht der Verwaltung nicht.

Mit Spannung erwarten Experten denn auch die Auswirkungen von sozialen Medien auf die NRW-Kommunalwahl 2020. Vor allem die Bürgermeisterwahl könnte – ähnlich wie in den USA die Wahlen von Obama und Trump – als überwiegend von Personen geprägte Entscheidung von den Netzwerken mit beeinflusst werden.

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