Was mir hier besonders auffällt: Deutsche Pünktlichkeit



„Wir als Geflüchtete müssen in Deutschland noch einmal ganz von vorne anfangen. Das ist gar nicht so einfach, denn Deutschland unterscheidet sich sehr stark von Afghanistan“, sagt Emamahmad Azimi, der seit sieben Jahren in Bocholt lebt und am Projekt Orbis mitarbeitet. Ein wesentlicher Unterschied sei die Bedeutung der Zeit. „Uns ist aufgefallen“, so Emamahmad, „dass die Leute hier sehr viel Wert auf Pünktlichkeit legen und dass es unhöflich ist, wenn man zu spät kommt. Unpünktlichkeit ist unhöflich. Ich wusste nicht, dass Pünktlichkeit gleichbedeutend mit Zuverlässigkeit ist. Der Umgang mit Zeit ist in Afghanistan anders.“

Diese Erfahrung machen auch viele Menschen aus anderen Ländern. Wenn man sie fragt: Was ist typisch deutsch, sagen sie sehr oft: Pünktlichkeit. Tatsächlich spielt Pünktlichkeit in Deutschland eine große Rolle. Schon die Kinder lernen es, pünktlich zum Mittagessen zu Hause zu sein und pünktlich in der Schule anzukommen. Wenn jemand nicht pünktlich zur Arbeit kommt, bekommt er leicht Ärger mit seinem Chef. Wer nicht pünktlich ist und andere warten lässt, gilt tatsächlich als unhöflich. Manche Menschen gehen deshalb lieber etwas zu früh zu einem Termin. Es gibt einen Spruch: „Fünf Minuten vor der Zeit ist des Deutschen Pünktlichkeit.“
Das Wort „pünktlich“ ist aus dem Wort „Punkt“ entstanden. Gemeint ist ein bestimmter Zeitpunkt, ein Punkt auf der Uhr. Die Erfindung der Uhr war die Voraussetzung für Pünktlichkeit. Zunächst besaßen nur wenige eine Uhr, später dann aber immer mehr Menschen. Erst dann war es möglich, sich für einen bestimmten Zeitpunkt zu verabreden.
Ursprünglich war es für viele Menschen in Deutschland gar nicht so wichtig, pünktlich zu sein. In Bocholt lebten die meisten Menschen nicht in der Stadt, sondern auf dem Lande. Ihr Tagesablauf richtete sich nicht nach der Uhr, sondern nach dem Stand der Sonne und nach dem Wetter. Bei den Bauern war das so und auch bei den Handwerkern.

Das änderte sich mit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert. In Bocholt entstanden mehrere Fabriken, in denen Textilien hergestellt wurden. 1852 kam die erste Dampfmaschine in die Stadt und dann immer mehr Maschinen. Sie bestimmten den Rhythmus für die Arbeiterinnen und Arbeiter. Ihre Aktivitäten mussten nun zeitlich exakt koordiniert werden. Waren sie nicht pünktlich, funktionierte es nicht.

Ein anderer Grund für die Pünktlichkeit war, dass Deutschland erst jetzt als ein einheitlicher Staat entstand. Ursprünglich hatte es aus vielen kleinen einzelnen Teilen bestanden. Jede Stadt hatte da noch ihre eigene Uhrzeit. Reisende mussten ihre Uhren alle 18 Kilometer um eine Minute vor- oder zurückstellen – abhängig davon, ob sie von West nach Ost fuhren oder umgekehrt. Ab dem 19. Jahrhundert entwickelten sich die Eisenbahn und das Schienennetz enorm. Züge mussten aufeinander abgestimmt und Güter mussten pünktlich zum Bahnhof gebracht werden. Und auch die Reisenden mussten pünktlich sein.

Für die Pünktlichkeit sorgte besonders das Königreich Preußen, das sich von Berlin und Brandenburg aus auf dem deutschen Territorium immer weiter ausgedehnt hatte, schließlich auch bis zum heutigen Nordrhein-Westfalen. In Preußen wurde vor allem unter den Soldaten und den Beamten auf Pünktlichkeit streng geachtet. Pünktlichkeit galt als eine preußische Tugend, und sie wurde auf andere Teile Deutschlands übertragen. So entstand die deutsche Pünktlichkeit als Teil der Erziehung und des täglichen Lebens. Die Entwicklung ging sogar über Deutschlands Grenzen hinaus: 1893 übernahm Kaiser Wilhelm die Mitteleuropäische Zeit, um auch international nur nicht zu spät zu kommen.

Die Pünktlichkeit hat gute Seiten, weil man dadurch planen kann. Ohne sie wären viele Dinge, die miteinander zusammenhängen, nicht möglich. Zum Beispiel im Krankenhaus ist das ganz wichtig oder auch beim Bau von Häusern. Negativ ist, dass die Erwartung von Pünktlichkeit in Deutschland zu einer immer intensiveren Zeitplanung führt – zu mehr Terminen, zu Stress und Hektik. Wer sich nicht daran hält, verspielt seine Chancen. „Wer seine Zeit vertrödelt, ist nutzlos“, stellt Emamahmad Azimi fest.

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