Streit um richtige Weichenstellung am Stammgleis wird heftiger



Von BERTHOLD BLESENKEMPER

Die Bahn kommt … nur vermutlich nicht mehr lange in Nordrein-Westfalens größtes zusammenhängendes Gewerbegebiet in Mussum. CDU, FDP und Stadtverwaltung wollen das dorthin führende Industriestammgleis bekanntlich stilllegen. Die Gleise seien nicht notwendig, zu teuer, und der Güter- würde den übrigen Bahnverkehr stören, so ihre Argumente. Die Opposition läuft Sturm. Unterstützung erhält sie von Gutachtern, einer Firma im Industriepark, von der Wirtschaftsförderung und sogar vom Unternehmerverband. „Ein solcher Verkehrsweg darf für einen Logistikstandort wie Bocholt nicht durch eine Stilllegung endgültig außer Acht gelassen werden“, meint Regionalgeschäftsführerin Jennifer Middelkamp auf Anfrage von Made in Bocholt. 

Bürgermeister Thomas Kerkhoff scheint inzwischen ein wenig kalte Füße zu bekommen. War die Entscheidung pro oder contra Stammgleis im Haupt- und Finanzausschuss Anfang Dezember angeblich noch unaufschiebbar, so ging der Ratsvorsitzende zwei Wochen später einer neuerlichen Kampfabstimmung in der letzten Ratssitzung das Jahres aus dem Weg. Er bat die Bahn um den zuvor angeblich unaufschiebbaren Aufschub und schlug eine Sondersitzung am 13. Januar nächsten Jahres vor. Das gibt allen noch einmal Zeit, sich neu zu sortieren. Ein Vorgehen, dass auch Bocholts oberster Wirtschaftsförderer Ludger Dieckhues begrüßt. Insgeheim hofft er dabei, dass es sich die Mehrheit im Rat doch noch einmal anders überlegt.

Die Diskussion um den Bahnschluss schlägt indes weiter hohe Wellen. Grund ist der im Vergleich zum November feststellbare, plötzliche Sinneswandel im Rathaus, vor allem aber in der wirtschaftsnahen CDU. Noch vor Wochen hatte die Union im Wirtschaftsförderungsausschuss den Erhalt des Stammgleises signalisiert. Damals hatte ein Gutachter der SCI Verkehr GmbH aus Köln klar gemacht, dass die Klimaziele in Europa nur mit mehr Schienenverkehr erreichbar seien. Außerdem werde der Güterverkehr derzeit von der Politik massiv gefördert, hieß es weiter. Aber der Experte erkannte damals auch die nur sehr schwache Nachfrage in Bocholt. „Die Anlieger des Gleises müssen erst noch von der Nutzung überzeugt werden“, so die Experten.

Genau das ist ein Hauptargument der Gleis-Gegner. 2019 war eine Umfrage bei Firmen im Industriepark Mussum gemacht worden. Die Resonanz fiel eher mau aus. Nur ein Unternehmen zeigte laut Stadtverwaltung Interesse am Erhalt, die Mehrheit gab an, perspektivisch keine Gleisanschluss zu benötigen. Zwei Unternehmen hätten als Grund explizit die fehlende Wettbewerbsfähigkeit der Bahn genannt, hieß es aus dem Rathaus. Auf Nachfrage von Made in Bocholt gibt man dort allerdings zu, dass nicht alle Unternehmen im Industriepark Mussum befragt wurden, sondern lediglich die direkten Anlieger des Gleisanschlusses. Auch gab es von wenigen Unternehmen keinerlei Rückmeldung.

Die Opposition hält derweil mit dem Hinweis auf eine zwischenzeitlich veränderte Politik auf Bundes- und EU-Ebene dagegen. Jennifer Middelkamp schlägt in die gleiche Kerbe. „Die Schiene wird perspektivisch attraktiver, wenn die CO2-Bepreisung steigt“, stellt die Regionalgeschäftsführerin des Unternehmerverbandes  fest. Gleichzeitig verweist sie auf ein „Henne-Ei-Problem“, wie es auch schon die SCI-Gutachter erkannt hatten. Was muss demnach zuerst da sein: Der Bedarf der Firmen oder ein guter Service auf der Schiene? Folgt die Nachfrage also dem Angebot oder muss es umgekehrt sein? Und vor allem: Wie verändert der notwendige Klimaschutz die Entscheidung in den kommenden Jahren? Genau das sind einige Kernfragen.

Unterschiedliche Meinungen auch in Sachen Finanzierung. Während die Gutachter bei einer Lösung auf kleinstem Level von Investitionen in höhen von 70.000 Euro ausgehen, spricht die Verwaltung von 460.000 Euro. Für eine dauerhafte Ertüchtigung der Strecke sollen sogar Kosten von bis zu 5 Millionen Euro anfallen, von denen allerdings 90 Prozent gefördert werden könnten.

Ein weiteres Argument betrifft die Elektrifizierung der Strecke Bocholt-Wesel. Wenn der „Bocholter“ künftig erst einmal alle 30 Minuten fahre, sei tagsüber auf dieser Strecke kein Raum mehr für Güterverkehr, hatte es in der entscheidenden Sitzung des Haupt- und Finanzausschusses von Stammgleisgegnern geheißen. „Da stimmt so nicht“, erwiderten daraufhin Antonius Mayland vom Verein zur Erhaltung und Förderung des Schienenverkehrs und der Regionalverband Münsterland des Verkehrsclubs Deutschland (VCD) unisono in öffentlichen Stellungnahmen. 

Stadt-Pressesprecher Karsten Tersteegen stellt auf MiB-Anfrage inzwischen klar: „Die Verwaltung hat nicht behauptet, dass kein Güterverkehr mehr am Tag fahren kann. Vielmehr hat die Verwaltung lediglich festgestellt, dass ein perspektivischer 30-Minuten-Takt nach Wesel ein höheres strategisches Ziel der Stadt wäre, als ein rudimentärer Güterverkehr. Dies würde zu einer Einschränkung von möglichem Güterverkehr führen. Zudem wäre es dann so, dass sich der Güterverkehr in diese Taktung einfügen muss, was im Einzelfall gelingen kann, aber schon zu erheblichen Einschränkungen einer Nutzung des Industriestammgleises führen würde.“

Das allerdings klingt schon ganz anders. Alles also nur ein Missverständnis? Grünen-Fraktionschefin Monika Ludwig glaubt das nicht. Sie hat vorgeschlagen, zur Sondersitzung des Rates am 13. Januar 2021 einen Vertreter der Bahn einzuladen, um endlich einmla Informationen aus erster Hand zu erhalten. Klingt schon ein wenig nach Misstrauensantrag. Unternehmerverband und Wirtschaftsförderung begrüßen derweil, dass überhaupt noch einmal diskutiert wird. Am Ende dürfte es auf eine geheime Abstimmung hinauslaufen. Dann wird sich zeigen, wie geeint vor allem die CDU in dieser Frage tatsächlich ist.

  1. Nyenhuis Michael says:

    Die Kosten werden von der Stadt bewusst hochgerechnet, damit allein die Finanzen als Abschreckung dienen.
    Das die benötigten finanziellen Aufwendungen tatsächlich immer viel niedriger sind als von der Stadt behauptet, ist nun schon mehrfach bewiesen worden. Z.B. wollte die Stadt eine Weiche einbauen lassen, auf der ein ICE mit Tempo 120 abbiegen kann und deshalb so teuer ist. Nur solch eine Weiche brauchen wir hier nicht. Der Eisenbahnverein hat gezeigt, dass die Weiche noch nicht einmal 1/4 kostet. Die Zahl der möglichen Nutzer wird zudem von Tag zu Tag größer.
    Man sollte nur bedenken, dass lt. Ratsbeschluss das Gleis auf den Eisenbahnverein übertragen wird. D.h.: dass auch der Eisenbahnverein Vertragspartner der Firmen ist, die fahren möchten. Und da einige Firmen mit der Stadtverwaltung schlechte Erfahrungen gemacht haben, sind sie auch nicht mehr bereit, mit denen zu reden. Verständlich, wenn man immer zu hören bekommt, dass das Gleis abgebaut wird und seitens der Stadt hier kein Güterverkehr gewünscht wird.
    Man nennt sich zwar Klimakommune, aber bezieht dies wohl nur auf´s Rad, dabei könnte hier wesentlich zum Klimaschutz beigetragen werden. Nachdem von allen Seiten – ausser der Stadt, CDU und FDP – vor einer Demontage des Gleises gewarnt wird, – auch von Gutachtern und Wirtschaftsvertretern – muss man sich fragen, ob da nicht etwas Anderes dahinter steckt?
    frohe und besinnliche Weihnachten

  2. Antonius Mayland says:

    Mir fällt es schwer, zu glauben, was ich da lese. Natürlich hat die Verwaltung behauptet, dass es erstens tagsüber nicht mehr möglich sei, Güterverkehr auf der Schiene durchzuführen und zweitens, dass es nachts nur ein Zeitfenster von 2 Stunden gäbe. Beides ist falsch, und die, die das behaupten, wissen das. Dazu ist zu sagen, dass erstens wohl kaum bekannt zu sein scheint, dass ein sehr großer Teil des Güterverkehrs immer nachts läuft. Dies wird in Zukunft sogar erleichtert, da dafür keine zusätzliche Stellwerksbesetzung in Bocholt mehr nötig ist, weil der Bahnhof Bocholt und damit auch die Weiche ins Industriestammgleis ans EStW in Emmerich angebunden wird.
    Zweitens, beides ist wünschenswert, sowohl Güterverkehr als auch einen Halbstundentakt nach Wesel zu haben. Es gegeneinander auszuspielen, zeugt sowohl von einem rudimentären Verständnis des Systems Eisenbahn als auch davon, daß hier die Bevölkerung nur unzureichend informiert wird.
    Die fehlende Wettbewerbsfähigkeit der DB ist an vielen Stellen sicherlich gegeben, Tatsache ist aber auch, daß es noch mehr Eisenbahn-Verkehrsunternehmen gibt als die Deutsche Bahn, selbst in Bocholt gab es die Bocholter Eisenbahn, die irgendwann nach der Kündigung der Büroräume durch die Stadt Bocholt nach Dinslaken umgezogen ist. Es gibt sie noch immer, wie auch ca. 350 andere EVU. Zu sagen, die Schiene sei nicht konkurrenzfähig, besagt lediglich, dass die DB vielleicht nicht konkurrenzfähig ist, aber andere möglicherweise sehr wohl. Gefragt hat man offensichtlich niemanden außer der DB.
    Vielleicht könnte man mal anfangen, vollständige und richtige Informationen zu geben, z.B. derart, daß man ALLE Anschreiben, Anregungen und Einwendungen, die an die Stadt, den Bürgermeister oder sonstwohin gegangen sind, öffentlich macht, damit sowohl der Rat als auch die Bocholter Bürgerschaft umfassend und vor allem richtig informiert werden.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert