Veränderte Lebenswelten und deren Auswirkungen auf die Jugendhilfeplanung



Eine Fachtagung zum Thema „Veränderte Lebenswelten von jungen Menschen und Familien – Auswirkungen auf die Jugendhilfeplanung“ führte jetzt das Kreisjugendamt Borken durch. Angeregt worden war die Auseinandersetzung mit dem Thema von den freien Trägern der Jugendhilfe. Das Interesse daran war sehr groß: Rund 150 Fachkräfte unter anderem aus Tageseinrichtungen und Tagespflege, aus den ambulanten und stationären Erziehungshilfen, aus Beratungsstellen, aus der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, aus Jugendverbandsarbeit und Jugendgerichtshilfe sowie aus den Frühen Hilfen besuchten die Tagung. Auch einige Mitglieder des Kreisjugendhilfeausschusses nahmen daran teil.

Referent war Professor Dr. Holger Ziegler von der Fakultät für Erziehungswissenschaften der Universität Bielefeld. Er ist bundesweit anerkannter Experte der Jugendhilfe und hat unter anderem in der Fachwelt vielbeachtete Forschungsprojekte wie „Achtsamkeit bei elterlicher Erziehung“, „Armutslagen von Familien“, „Stress-Studie: Burn-Out im Kinderzimmer – Wie gestresst sind Kinder und Jugendliche in Deutschland?“ durchgeführt. Seine wissenschaftlichen Aufgabenschwerpunkte umfassen insbesondere die „Organisation und Profession in der Kinder- und Jugendhilfe“ sowie die „Wirkungsorientierte Jugendhilfe“.
In seinem Vortrag nahm Professor Ziegler die heutigen Lebenssituationen von Familien in den Blick. Er stellte zunächst fest, dass die Herausforderungen an Erziehung unabhängig von aktuellen Entwicklungen – wie beispielsweise Digitalisierung – die gleichen sind wie früher. „Kinder und Jugendliche brauchen Anerkennung, Wertschätzung, Geborgenheit, Aufmerksamkeit, Zuwendung und Freunde“, betonte der Referent. Die Familie genieße weiterhin einen hohen Stellenwert. Zu beobachten sei hingegen, dass bei den Eltern das Ausmaß an „Kindzentriertheit“ zugenommen hat. Mütter und Väter würden sich häufig in einem Spannungsverhältnis von Überbehüten („Helikopter-Eltern“) und Gewährenlassen ihrer Kinder sehen. Verunsichert seien sie nicht selten auch in der Frage, wie das richtige Maß der Förderung aussehe – die Bandbreite reiche von Überforderung bis Unterforderung.
Bei vielen Kindern wiederum hat laut Professor Ziegler der empfundene subjektive Stress zugenommen. Großen Druck würden sie auch deshalb empfinden, weil sie Angst hätten, den Erwartungen der Eltern nicht gerecht werden zu können.
Professor Ziegler konstatierte zudem, dass zum einen die finanzielle Unterstützung von Familien zurückgegangen sei, zum anderen die Teuerungsrate in Deutschland vor allem die Bevölkerungsschichten am unteren Ende der Einkommensskala treffen würde. Für die öffentliche Jugendhilfe forderte Professor Ziegler daher: „Es muss einen angemessenen Umgang mit Armut und Ungleichheit geben. Individuelle, am konkreten Bedarf ausgerichtete Hilfen sollten Vorrang gegenüber allgemeinen sozialräumlichen Angeboten haben.“ Von grundlegender Bedeutung sei es überdies, die Familien, die Unterstützung benötigen, auch tatsächlich zu erreichen. Ämter und Behörden müssten weiterhin Hürden bei der Inanspruchnahme von Leistungen abbauen und „niedrigschwellige“ Angebote machen.
Nach dem Vortrag befassten sich die Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer in mehreren Arbeitsgruppen mit den Einsatzfeldern „Tagesbetreuung“, „Jugendarbeit“, „Hilfen zur Erziehung“ sowie „Frühe Hilfen“. Sie diskutierten vor allem darüber, wie die fachlichen Impulse des Referenten Eingang in die Praxis finden könnten. Für die teilnehmenden Mitglieder des Kreisjugendhilfeausschusses war gerade auch dieser Teil der Veranstaltung von großem Interesse, weil sie dabei erfuhren, mit welchen Anforderungen die Fachkräfte alltäglich konfrontiert werden.
So wurde der Umgang mit dem elterlichen Erziehungsverhalten in allen Arbeitsgruppen intensiv diskutiert. Auch die Erwartungen an Eltern in Bezug auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bildeten einen Schwerpunkt der fachlichen Diskussionen. Hier waren sich die Fachkräfte aus der Jugendhilfe einig, dass auch die Wirtschaft gefordert ist, einen Beitrag zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu leisten. Eine weitere Flexibilisierung sowie eine Ausdehnung der Betreuungszeiten sollte aus Sicht der Fachkräfte mit Blick auf das Kindeswohl nicht erfolgen.
Bildzeilen:

Gruppenbild mit Moderatorinnen und Moderatoren, den beiden Jugendhilfeausschussvorsitzenden und Vertreterinnen und Vertretern der Kreisverwaltung und dem Referenten:
(hintere Reihe, v. li.) Eva Vehring (Jugendwerk Stadtlohn), Veronika Zimmermann (AWO Münsterland-Recklinghausen), Juliane Rehkamp (DRK Stadtlohn), Michael Kempkes (DRK Isselburg), Professor Dr. Holger Ziegler (Uni Bielefeld), Dr. Ansgar Hörster (Kreisdirektor), Michael Wingerath (Caritasverband Borken);
(vordere Reihe, v. li.) Raphaela Südfeld (SKF Ahaus-Vreden), Lydia Lindemann (DRK Kreisverband Borken), Elisabeth Möllenbeck (Kreis Borken, Jugendhilfeplanerin), Maria Forsthövel (Caritasverband Bocholt), Christel Wegmann (Vorsitzende Kreisjugendhilfeausschuss), Brigitte Watermeier (Kreis Borken, Leiterin Fachbereich Jugend und Familie), Barbara Seidensticker-Beining (stellvertr. Vorsitzende Kreisjugendhilfeausschuss), Marlis Spieker-Kuhmann (DRK Kreisverband Borken) und Annette Hülemeyer (Kreissportbund Borken, Sportjugend).

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