Serie 36,5 Grad: Die andere Seite der Medaillen



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Von BERTHOLD BLESENKEMPER (Text) und KISTEN ENK (Fotos)

Dafür, dass er den Rheder Kirchturm eigentlich nie so recht verlassen wollte, ist Willi Gernemann wahrlich weit herumgekommen in der Welt. Simbabwe, Bolivien, Namibia, Chile, Mauritius, Sri Lanka – auf fast allen Kontinenten war der 61-jährige zu Hause. Jetzt geht’s zurück nach Südamerika. Und zwar nach Brasilien, genauer nach Rio de Janeiro. Dort betreut Willi Gernemann als Leichtathletik-Bundestrainer des Deutschen Behindertensportverbandes vom 7. bis 18. September die Paralympics-Teilnehmer bei ihrer Jagd nach Gold, Silber oder Bronze. Aber, so betont der Chefcoach gleich zu Beginn, Medaillen seien nicht so wichtig. „Unser Ziel sind persönliche Bestleistungen. Das ist eine Größe, die wir beeinflussen können. Alles andere hängt gerade im Behindertensport von vielen andern Faktoren ab.“

Willi Gernemann ist nicht nur Trainer, sondern als hautamtlicher Angestellter des Verbandes auch so eine Art Mädchen für alles. Er kümmert sich um Trainingspläne, Unterkünfte, Zimmerbelegungen, Transporte zu den Wettkampfstätten, um Wehwehchen, rechtzeitig Anmeldungen  und, und, und. Paralympics bedeuten für ihn drei Wochen Dauerstress. Schon vor dem Start verbrachte er Tage und Wochen mit den Vorbereitungen. Stundenlang saß er vor dem Fernseher und beobachtete die Olympischen Spiele mit besonders wachsamen Augen. Telefonate, Chats und Nachrichten von und mit Aktiven und Funktionären halfen ihm. „Da hat es sich natürlich bezahlt gemacht, dass ich durch meine bisherige Arbeit in vielen Ländern ein großes Netzwerk besitze“,  erklärt der 61-jährige.

Profitieren sollen davon in erster Linie seine Schützlinge. Allen voran Weitspringer Markus Rehm. Der Para-Weltrekordler ist als Olympiasieger im Weitsprung der Beinamputierten so gut wie gesetzt. Der 27-jährige gebürtige  Göppinger landete vor knapp einem Jahr bei 8,40 Metern.  Bei den deutschen Meisterschaften der Nicht-Behinderten ließ er die gesamte Konkurrenz hinter sich.  Seitdem hält sich in der Sportwelt der Streit darüber, ob die Hochleistungsprothese des Athleten eher ein technischer Vorteil denn ein Handicap ist.  Eine unwürdige Diskussion, wie Willi Gernemann findet.  „Behinderte haben nicht nur ein körperliches Handicap. Sie verlieren, weil für sie alles im Leben viel aufwändiger ist, soviel Zeit, dass Ihr Tag manchmal nur 18 Stunden hat“, erklärt der Bundestrainer. Umso höher sei die Leistung seiner Schützlinge einzuschätzen, ergänzt er.

Willi Gernemann kann das beurteilen. Jahrelang hat er auch nicht behinderte Top-Athleten trainiert. Der bekannteste war der namibische Sprintstar Frankie Fredericks. Zu dem mehrfachen Vizeweltmeister und Silbermedaillen-Gewinner hat der Rheder noch heute einen guten Draht. Begonnen hatte die Karriere des heute 61-jährigen allerdings mit seiner heutigen Ehefrau Cilly Lemkamp. Der ehemaligen deutschen Weitsprung Jugendmeisterin des LAZ Rhede half der damalige Freund aus einem Formtief. Und Willi Gernemann fand dabei nicht nur die Liebe des Lebens, sondern auch seine Berufung.

Er hängt seinen erlernten Job  als Schlosser bei Flender an den Nagel und konzentrierte sich fortan auf den Sport. „Jeden Tag die Stechuhr zu knutschen, war ohnehin nicht mein Ding“, meint er rückblickend. Willi Gernemann drückte noch einmal die Schulbank und machte sein Abitur nach sowie einen Trainerschein nach dem anderen. An der Sporthochschule in Köln sicherte er sich höchste Qualifikationen. Ungewöhnlich für jemanden, der zwar immer sportlich, aber weder in der Leichtathletik noch im Fußball, Basketball oder Tennis „so wirklich richtig gut“ war.
Umso besser konnte Willi Gernemann anderen die Grundlagen und Methodiken vermitteln. Das führte ihn so manches Mal an ganz ungewöhnliche Orte. In Winterberg beispielsweise brachte er  deutschen Bobfahrern das schnelle Anschieben ihre Schlitten bei. In den Anden bildete er Trainer und Kampfrichter aus. Ähnliche Projekte führten ihn mehrfach nach Afrika.

Sein Job hat den gebürtigen Münsterländer zum Weltbürger gemacht. Er ist offener, liberaler, gelassener, aber auch kämpferischer geworden. Soziale Ungerechtigkeit und  die Armut in der Welt machen ihn wütend. Gleiches gilt für Ignoranz oder mangelnde Professionalität. Begegnen sie ihm, nimmt der Rheder kein Blatt vor dem Mund und spricht Klartext.

Nur gut, dass Willi Gernemann die Härten seiner Gradlinigkeit mit trockenem Humor abschwächen kann. Der 61-jährige lacht gerne und viel. Und er hat immer einen Spruch auf den Lippen. So auch als wir uns verabschieden, ihm und seinen Sportlern viel Erfolg wünschen und uns für das Gespräch bedanken. Willis Antwort: „Aber immer gerne, Mann!“

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